Das Derby zwischen Borussia Mönchengladbach und dem 1. FC Köln war schon tief in der Nachspielzeit, als Mark Uth unverhofft die Chance hatte, sich zu einem kölschen Derbyhelden zu schießen. Doch den Ball, der ihm im Strafraum der „Fohlenelf“ so überraschend vor die Füße fiel, schoss der Kölner Angreifer mit einer wuchtigen Direktabnahme genau auf Yann Sommer, den Schweizer Keeper in Diensten der Gastgeber. Die Reaktion im weiten Rund des Borussia-Parks: Nichts. Kein Raunen, kein Rufen. Kein Schreien, kein Stöhnen. Dagegen: Verhaltener Applaus, der im leeren Stadion schüchtern Widerhall fand. Aufmunternder Art für Uth von seinen Kollegen, begeisternder Manier für Sommer von seinen Mitspielern. Sonst? Nichts.
In seltener Einigkeit verkündeten dann auch alle Beteiligten nach diesem „Geisterderby“: Ohne Zuschauer macht es einfach keinen Spaß. „Geisterspiel ist einfach scheiße“, brachte FC-Kapitän Jonas Hector die Situation prägnant auf den Punkt und bekam Zuspruch vom rheinischen Rivalen. „Wir haben das Spiel gewonnen, darüber freuen wir uns. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass Fußball ohne Fans nicht der Fußball ist, den wir uns alle wünschen. Wir haben uns sehr professionell verhalten, trotzdem wissen wir alle jetzt noch mehr, wie wichtig Fans für diesen Sport sind“, betonte Borussias Coach Marco Rose. Ähnlich deutlich wurde überraschend Schiedsrichter Deniz Aytekin: „Was wir heute erlebt haben, ist schwer in Worte zu fassen. Es fehlte etwas – und das ganz massiv. Ich kann nur hoffen, dass sich Spiele ohne Zuschauer langfristig nicht durchsetzen. Es war beängstigend, die Leidenschaft hat gefehlt. Ohne Fans ist Fußball nicht mal halb so viel wert.“
Fußball ist eben einfach mehr als das schnöde 1:0
Die gespenstische Atmosphäre dieses Geisterspiels brachte eine Erkenntnis, die viele Anhänger schon längst gemacht hatten: Die Faszination des Fußballs speist sich nicht ausschließlich aus dem Sport, die Beliebtheit für Deutschlands liebstes Kind hat zu großen Teilen mit der Stimmung und dem Ambiente in den Stadien zu tun. Wie sehr, das vermochten viele Beteiligten nur zu erahnen – trotz Protesten wie 12:12, trotz Stimmungsboykotts einzelner Szenen, trotz Spielen in Hoffenheim, Wolfsburg oder Leverkusen. Wer das Trauerspiel namens „Geisterderby“ verfolgt hat, dem dürfte aufgegangen sein, welch wichtiger Teil der Unterhaltungsmaschinerie Profifußball die Fans geworden sind. Ohne Fans ist der Fußball, eine Sportart mit grundsätzlich überschaubarem Entertainmentfaktor, nichts.
Eines ist dadurch bei der ohrenbetäubenden Stille im Borussia-Park deutlich geworden: Sinnvoll ist ein Spielbetrieb unter Ausschluss der Öffentlichkeit bei aller Liebe nicht. Ja, der Sport sollte im Vordergrund stehen – und das würde er schließlich auch, wenn niemand im Stadion dabei zuschauen dürfte. Aber der Spaß, auch und vor allem für die hauptsächlich Beteiligten auf dem Platz, wäre nicht mehr gegeben. Die absurde Szenerie in Mönchengladbach sollte das auch dem letzten vor Augen geführt haben. Der Fußball, der eben doch viel mehr als nur das schnöde 1:0 ist, er wäre endgültig zur leeren Hülle verkommen. Zum austauschbaren Produkt, das nur noch um der heiligen Spielordnung zuliebe am Leben gehalten wird. Ein Ende mit Schrecken scheint da deutlich sinnvoller als ein Ende ohne Schrecken.
Aus Solidarität mit den Schwachen: Bleibt weg vom Stadion!
Weitere Argumente für eine Aussetzung des Spielbetriebs wurden derweil außerhalb des Stadions freimütig in die Welt verteilt: Fast 1.000 Mönchengladbacher Fans machten dem Team schon vor dem Spiel ihre Aufwartung auf dem Weg zum Stadion – und waren dann auch allen Warnungen, dies zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie doch sein zu lassen, während der Partie hinter der Heimkurve am Start. Zur Belohnung machte sich die siegreiche Mannschaft nach dem Abpfiff auf den Weg zu ihren Anhängern, die vor dem Stadion im Regen ausgeharrt hatten, um gemeinsam den Derbysieg zu feiern. Unter anderem Weltmeister Christoph Kramer schwärmte danach vor den TV-Kameras noch von der verantwortungslosen Aktion der Mönchengladbacher Anhänger. Kritische Worte dazu, solch Menschenansammlungen in diesen Zeiten schlichtweg zu unterlassen: Fehlanzeige.
Ein ähnliches Schauspiel wiederholte sich nur wenige Stunden später in Paris, wo PSG gegen Borussia Dortmund den Viertelfinaleinzug mit seinen Fans vor den Stadiontoren feierte. Es bleibt zu hoffen, dass sich die Fanszene des 1. FC Köln am Wochenende nicht derart egoistisch und lernresistent präsentiert. Stattdessen sollte sie sich ein Beispiel an ihren Kollegen aus Dortmund, Stuttgart oder München nehmen, die allesamt mit Stellungnahmen auf die Problematik aufmerksam gemacht haben und für den kommenden Spieltag, sofern er denn noch stattfinden wird, ein Fernbleiben vom Stadion ankündigten. Aus Solidarität mit den Personen, die von der grassierenden Coronavirus-Pandemie zuallererst gefährdet sind. Es ist ein kleines Zeichen, doch ein wirkungsvolles. Und deutlich verantwortungsbewusster als so manch Verband und Verein aktuell agiert.
Mögliche Ticketerstattung dem 1. FC Köln schenken?
Doch auch aus der FC-Ecke sollte nicht allzu moralisch mit dem Zeigefinger auf andere gedeutet werden. So äußerte sich zum Beispiel Horst Heldt am Donnerstag nach den Eindrücken des „Geisterderbys“ auf die Frage, wie er dazu stehen würde, falls sich am Samstag vor dem Müngersdorfer Stadion Fans versammeln: „Das ist ein zweischneidiges Schwert. Das erfüllt nicht den Sinn, der erzielt werden soll: dass die Menschen sich nicht im großen Rahmen treffen. Auf der anderen Seite kann ich nachvollziehen, wenn Fans kommen möchten und mir fällt schwer ihnen zu sagen: Macht das nicht. Wir sind mit unseren Fans im Austausch. Es ist eine schwer zu beantwortende Frage“, so der FC-Sportgeschäftsführer. Dabei ist es mit Blick auf Italien und die auch hier drohenden Zustände keine allzu schwere Frage. Es ist sogar ziemlich simpel. Fußball ist derzeit verdammt noch einmal nicht wichtig. Empfehlt den Leuten dringend und in deutlichen Worten, ihren Arsch zuhause zu lassen!
Im Müngersdorfer Stadion werden die „Geißböcke“ derweil am Samstag gegen den 1. FSV Mainz 05 allein unterwegs sein. Keine Fans erlaubt, das gilt auch für das bald anstehende Derby gegen Fortuna Düsseldorf. Für den Verein auch finanziell keine leichte Situation, schlägt doch jedes Geisterspiel mit einem siebenstelligen Fehlbetrag für den FC zu Buche. Den ersten Schritt, diesen wirtschaftlichen Schaden für den Club zu mindern, machte nun das Fanprojekt, das in einer Mail an seine Mitglieder darum bat, doch auf die mögliche Erstattung der Tickets zu verzichten, um das im millionenschweren Profifußball-Business agierende Unternehmen 1. FC Köln nicht allzu sehr zu belasten. Da kommen einem angesichts der horrenden Gehälter für Spieler und Funktionäre, der achtlos herausgeworfenen Abfindungen und der selbst vor Nachrichten bezüglich der schwierigen Situation rund um die Coronavirus-Pandemie nicht haltmachenden Vermarktung des Vereins doch glatt die Tränen.
Verschiebt die EM, lasst die Liga pausieren!
Es wird in den nächsten, vermutlich äußerst problematisch verlaufenden Monaten viele Menschen und Organisationen geben, die das Geld aus Ticketerstattungen sicherlich besser gebrauchen könnten. Die Fans von Atalanta Bergamo, in der heftig betroffenen Lombardei beheimatet, spendeten beispielsweise ihre Einnahmen an ein Krankenhaus, das derzeit wegen zahlloser Erkrankter an der Grenzen der Belastbarkeit und darüber hinaus agiert. Eine schöne Geste, die allerdings auch zeigt: Derzeit ist Fußball nicht einmal ansatzweise wichtig. Das sollten auch die Verbände langsam, aber sicher einsehen. Die einzige Lösung, die sich derzeit anbahnt: Die EM um ein Jahr verschieben, um den Ligen Luft zum Atmen zu verschaffen und in eine unbefristete Pause zu schicken. Dann ist noch genug Zeit, sich mit den aufkommenden Fragen nach Auf- und Abstieg, Europapokal-Qualifikation und anderen unwichtigen Dingen zu beschäftigen.
Es wäre zwar ein spätes, aber dennoch richtiges Signal. Zu zeigen, dass der Fußball bereit ist, seinen Teil der Verantwortung in der derzeitigen Situation zu übernehmen. Zu zeigen, dass die Werte, die man sich stets und ständig auf die Fahnen schreibt, nicht nur hohle Phrasen für größere Geschäftstüchtigkeit sind. Die Einschläge kommen die vergangenen Tage immer näher. Spieler sind infiziert, Mitarbeiter, Fans. Das darf den Fußball nicht kalt lassen. Eine andere Entscheidung als zumindest eine Pause ist angesichts der Einschränkungen, die auf die Menschen in Europa zukommen, wohl nicht vermittelbar. The show must go on? Das ist in diesem Fall einfach nicht möglich. Es ist schmerzhaft, aber anders nicht zu lösen. Alles hat seine Zeit – der Fußball muss verstehen, dass das auch für ihn gilt, spätestens jetzt.