Wie in den letzten Monaten schon fast üblich, gab sich sich Christian Seifert auch auf der Pressekonferenz nach der außerordentlichen DFL-Mitgliederversammlung am Dienstag sehr demütig in Richtung Politik. Denn der Fußball will von der Politik mal wieder was: Er will wieder vorne weg gehen. Er will als erster seine Fans zurück. Und mit Sätzen wie „Die DFL erwartet nichts, die DFL fordert auch nichts“ fährt Seifert dabei wieder dieselbe Strategie wie schon im April, als der Fußball überhaupt wieder auf die Bühne wollte. Die Strategie des Bittstellers, welcher devot jedes „Nein“ der Politik zur Kenntnis genommen hätte. Denn Großveranstaltungen sind eigentlich noch bis 31. Oktober untersagt, die Saison beginnt allerdings schon Mitte September. Es braucht also eine Ausnahme. Mal wieder.
Doch die Zeit drängt und ein politisches “Nein” hätte die DFL natürlich nicht einfach so zur Kenntnis genommen. Die DFL braucht Zuschauer im Stadion für ihr Produkt Bundesliga. Und darum beschlossen die 36 Profiteams auf ihrer außerordentlichen Mitgliederversammlung nach knapp dreistündiger Debatte mit einfacher Mehrheit, dass die Stadien nach Möglichkeit teilweise wieder geöffnet werden sollen. Jedoch mit großen Einschränkungen: So gibt es in diesem Jahr keine Kontingente für Gästefans. Zudem bleiben bis zum 31.10 die Stehplätze geschlossen und auch Alkohol darf bis Ende Oktober nicht im Stadion verkauft werden. Außerdem festgelegt wurde eine Identitätsfeststellung aller Stadiongänger, um mögliche Infektionsketten durchbrechen zu können. Die genaue Ausgestaltung dabei liegt im Verantwortungsbereich der einzelnen Clubs.
Die neue Stadionrealität ist de facto eine Law-and-Order-Fantasie
Im Kern heißt das für die kommende Zeit: Personalisierte Tickets, Alkoholverbot, Gästefanverbot, Stehplatzverbot. Und nicht zu vergessen: Borussia Dortmund testete am 34. Spieltag der abgelaufenen Saison Wärmebildkameras am Eingang, im Stadioninneren kamen 3D-Sensoren zum Einsatz, um die Abstandsregeln zu kontrollieren. Ob dies ein Modell für die Zukunft ist, wird sich zeigen. Aber selbst wenn nicht, sind die Maßnahmen ziemlich genau das, wovor organisierte Fans schon lange warnen und wogegen sie sich jahrelang mit Händen und Füßen wehrten: Die Corona-Maßnahmen als Dauerzustand wären das Ende einer Fankultur, wie man sie kennt.
Erwartbar regte sich bereits vor dem Beschluss Widerstand gegen diese Pläne. Ultras und andere aktive Fangruppierungen wollen bei einer Teilöffnung nicht ins Stadion. Für sie gilt: Alle oder keiner. „Wir sprechen uns klar gegen einen Fußball mit Zuschauern aus, der am Ende für DFL und DFB nur Argumente dafür liefern soll, dass der Fußball auch ohne seine aktiven Fanszenen funktionieren würde“, argumentierte beispielsweise die Rote Kurve Hannover. Andreas Jour, Vorsitzender des “FC Schalke 04 Supportersclub e. V.“, legte nach und ließ sich gegenüber dem ZDF mit den Worten zitieren, dass sich ihm der Verdacht aufdränge, die derzeitige Situation würde dafür genutzt, einen Versuchsballon zu starten, wie zukünftig ein Fußball ohne Stehplätze und ohne den üblichen Support funktioniere und aussähe.
„Es wird nicht den einen Lichtschaltermoment geben, wo die Politik den Startschuss gibt für volle Stadien ab dem nächsten Spieltag.“ (Christian Seifert)
Und auch die Interessengemeinschaft „Unsere Kurve e. V.“ meldete sich zu Wort. Sie erkannte in ihrem Statement zwar an, dass es einen Widerspruch zwischen dem notwendigen Gesundheitsschutz und dem Ausleben von Fankultur gäbe. Stellte danach allerdings auch fest, dass „neue Technologien der Überwachung nicht durch die Hintertür des Gesundheitsschutzes eingeführt werden [dürften].“
Allen Stellungnahmen ist also die Befürchtung gemein, dass nicht sämtliche Maßnahmen nach Ende der Pandemie ohne Wenn und Aber zurückgedreht werden. Es herrscht großes Misstrauen vor. Ein Misstrauen, welches schnell in weiterem Desinteresse münden könnte. Gerade für viele leidenschaftliche die hard-Fans und Auswärtsfahrer ist das Ende der Fahnenstange erreicht, sie wenden sich ab. Ein Trend, der auch die Funktionärsebene beunruhigen sollte.
Erste Politiker fordern bereits eine Ausweitung des Alkoholverbots
Und Wasser auf die Mühlen der Zweifler gab es schnell. Während Julian Franzke im kicker noch davon sprach, es gäbe „keine Indizien, die dafür sprechen würden”, dass “‘die da oben’ die Corona-Krise ausnutzen könnten, um die Fankultur dauerhaft stärker zu reglementieren”, wagte sich der ehemalige Kunstturner und jetzige CDU-Bundestagsabgeordnete Eberhard Gienger bereits aus der Deckung. Er begrüßte gegenüber der Augsburger Allgemeinen das generelle Alkoholverbot im Stadion und forderte dieses auch über den 31.10 hinaus. Seine Position begründete er mit Ausschreitungen oder dem Missbrauch von Pyrotechnik, bei welchem seiner Meinung nach Alkohol oft eine Rolle spielt.
Durch Fakten und außerordentliche Sachkenntnis ist dieses Statement des CDU-Hinterbänklers nicht geprägt, es zeigt dennoch exemplarisch, wovor man sich bei der Teilöffnung durchaus fürchten sollte: Es werden jetzt de facto Überwachungsfantasien von Law-and-Order-Fetischisten implementiert, welche das Kulturgut und den Freiraum Fankultur einschränken oder im Extremfall sogar sein Ende bedeuten könnten. Und ob diese vollständig zurückgedreht werden, ist derzeit nicht garantiert. Immerhin können Politiker im Wahlkampf leicht mit einem Plus an vermeintlicher Sicherheit argumentieren, welches jetzt endlich im Stadien Einzug hält und die Kriminalität eindämpft. Und das Sicherheitsargument zieht am Ende fast immer, in der Vergangenheit wurde einmal eingeführte Sicherheitsarchitektur nur ganz selten wieder zurückgebaut.
Die DFL muss gegenüber der Politik klare Kante zeigen
Deswegen sollte die DFL die Skepsis der aktiven Fans anerkennen sowie rasch und eindeutig erklären, dass der derzeitige Zustand ein absoluter Ausnahmefall ist. Denn es geht auch nicht nur um die aktiven Fanszenen. Auch viele sonst nicht organisierte Fans könnte die Situation am Ende in eine Zwickmühle führen: Denn es gibt ja durchaus Gründe, in der kommenden Saison ins Stadion gehen zu wollen. Die Mannschaft will unterstützt werden. Die oft einzigartige Gastronomielandschaft rund um die Stadien wird nach einer weiteren Geisterspielsaison vermutlich sterben. Und die kleineren Vereine brauchen jede Einnahme. Das gilt für unterklassige Vereine noch mehr als für Bundesligisten, aber solange Solidarität im Profifußball nur für Sonntagsreden gebraucht wird, halt auch dort.
„Ich bitte darum, die Debatte um Stehplätze oder Fans im Allgemeinen auch nicht zu einer Grundsatzdiskussion zu machen – es geht hier darum, einem nicht zu unterschätzenden Infektionsgeschehen Rechnung zu tragen.” (Christian Seifert)
So wird sich der unorganisierte, aber kritische Stadionbesucher am Ende fragen und abwiegen: Gibt mir der Stadionbesuch den emotionalen Kick, mit dem man die Pilgerfahrt nach Müngersdorf bislang verbunden hat? Kein Alkohol, keine Stehplätze, ein (wenn überhaupt) halbleeres Stadion, keine Gästefans, über welche man sich entweder aufregen, ärgern oder lustig machen kann. Kurzum: Ein Nationalmannschaftserlebnis im Quadrat inklusive umfassendem Überwachungsfeeling. Der skizzierte Stadionbesuch erinnert bei Lichte betrachtet ja doch eher an eine Karikatur dessen, was den Stadionbesuch ausmacht.
Die Maßnahmen müssen schnell wieder zurückgenommen werden
Aber der Stadionbesuch ist für viele Menschen ein wichtiger emotionaler Teil ihres Lebens, der benötigte Ausbruch aus dem Alltag, den sie als Ventil für ihr Seelenheil brauchen. Sie sollten sich bei ihrer Abwägung von der DFL nicht auch noch unabsichtlich zum nützlichen Idioten von Rainer Wendt und anderer Scharfmacher machen und mit ihrem Stadionbesuch implizit und unabsichtlich längerfristig eine Dystopie unterstützen und gutheißen, aus der es nach Corona kein Zurück mehr gibt.
Dass Christian Seifert der Öffentlichkeit das Bild vermittelt, der Fußball wäre gegenüber der Politik Bittsteller, mag die für ihn und sein Amt die meist richtige Vorgehensweise sein. Der Ligastart gab dieser Strategie zumindest im Frühjahr Recht. Allerdings muss er jetzt aufpassen, den Rückhalt bei vielen Fans nicht endgültig zu verlieren und den Populisten durch Demutsgesten Tür und Tor zu öffnen. Die Message muss klar sein: Die Maßnahmen müssen am Ende ohne Wenn und Aber zurückgenommen werden. Das abschreckende Beispiel der Nationalmannschaft sollte der DFL-Chef vor Augen haben, der deutsche Fußball hat seine bunte Fankultur als “unique selling point” und sollte ab und an auf sie hören. Manchmal kann es dann halt nicht nur die zurückhaltende Haltung sein, manchmal muss man auch klare Kante zeigen. Die Zukunft des Fußballs entscheidet sich nicht nur im eigenen Geldbeutel, am Ende wurde in der Geschichte auch oft mit den Füßen abgestimmt.