Gleichzeitig diskutiert nach jeder Pyro-Show oder Prügelei unter Fußballfans das halbe Land fast genauso hysterisch über ein vermeintliches Gewaltproblem im Fußball wie in den letzten Tagen über Kühnerts Kühnheit. Innenminister-Konferenzen beraten über Fußballfans, Räume in Stadien werden durchsucht, Anzeigen aufgegeben, Sportmoderatoren präsentieren spontanes Codeswitching-Talent hin zum Vokabular der Kriegsreporter-Kollegen und der Boulevard überschlägt sich sowieso.
Zum anderen kann man die die Ultra-Kultur vom politischen Grundgedanken her durchaus eher im linken, kollektivistischen, weniger im konservativ, kapitalistischen Spektrum ansiedeln. Was (leider) keinesfalls heißt, dass Ultra automatisch politisch links bedeuten muss – auch rechte Fan-Gruppierungen fühlen sich der Ultra-Kultur durchaus zugehörig.
Dennoch bleibt das zentrale Anliegen der meisten Anhänger neben der bedingungslosen Unterstützung des Vereins auch zu verhindern, dass ebendieser zum bloßen Gegenstand wirtschaftlicher Interessen Dritter wird – ein Konzept demokratischer Kontrolle. Schließlich befinden wir uns hierbei innerhalb eines Vereins – einer Miniatur-Gesellschaft, in der es die „Arbeiter“ ebenso gibt wie die „Elite“. Nur dass die Mitglieder in einem Verein, also auch die Ultras, keine Lohnarbeiter sind, sondern sich freiwillig engagieren – und sogar draufzahlen. Die Gemeinsamkeit: Ohne diese Mitgliederbasis, ohne die Anhänger, wäre Fußball auch nicht mehr wert als eine Fabrik ohne Arbeiter. So gilt kurz gesprochen: Ultras sind gegen die kommerzielle Ausschlachtung dessen, was ihnen ein Zuhause bietet. Anderen geht das mit ihrer Wohnung so. Kevin Kühnert versteht das. Ob Ultras oder Juso-Chef: Beide stellen sich gegen eine bedingungslose “Weiter so”-Mentalität. Beide wollen einen Diskurs über progressive Möglichkeiten, die Situation zu verbessern.
Kapitalismus als Ersatzreligion
Während Ultras es also wagen, Grenzen zu überschreiten und „die da oben“ in den Club-Führungen und Verbänden zu provozieren, hat der Juso-Chef es gewagt, die Weltbilder derjenigen anzutasten, die dem Kapitalismus als Ersatzreligion fromm verfallen zu sein scheinen. Das bengalische Feuer der politischen Arena sozusagen. Wenngleich Pyrotechnik natürlich tatsächlich nicht erlaubt ist, politische Gedankenspiele aber schon, fühlen sich die Reaktionen dennoch so an, als hätte der Jungsozialist etwas gaaanz Verbotenes getan.
Die deutschen Fanszenen protestierten mit einem Aktionsspieltag gegen die Verbände | Foto: Oliver Hardt/Bongarts/Getty Images
Auch Kühnert hat Mitbestimmung und demokratische Entscheidungen über die Verwendung von Gewinnen im Sinn. Die Ablehnung von Investoren durch Ultra-Gruppen bei Fußballclubs hat den gleichen Gedanken: Die kollektivistische Struktur eines Vereins, der seinen Mitgliedern dient, zu erhalten und eine kommerzielle Struktur mit Gewinnabsichten einzelner Investoren zu verhindern.
Diesen Konflikt gibt es im Fußball schon länger. Doch über die Pervertierung von Vereinen hinzu Kapitalgesellschaften, die als Spielzeug einzelner Mäzene oder Konzerne dienen, wurde nie so intensiv diskutiert wie über ein bisschen Pyrotechnik in Händen junger Leute. Und genauso scheut die Republik offenbar die ernsthafte Diskussion darüber, ob unsere Version der sozialen Marktwirtschaft denn noch für alle zu einem fairen Ergebnis führt. Ob wir unsere Spielregeln ändern müssen, und wenn ja, wie.
Gut, dass es Ultras (so)wie Kevin Kühnert gibt
Dass die Rechtsextremen in Sachsen ironischerweise völlig unbehelligt mit Pyrotechnik durch die Stadt marschiert sind, während die Polizei anderswo wegen drei Bengalos oder einer beleidigenden Fahne in Fanblöcke einrückt und Fußballfans physisch attackiert, rundet den verqueren Eindruck, den die Republik derzeit bietet, da nur ab. Über “die Ultras“ in den Stadien und der politischen Arena sprechen die Ministerpräsidenten, über das sich erneut ausbreitende rechte Gedankengut im Land, viel zu hohe Mieten und die immer größer werdende Schere zwischen Arm und Reich lieber nicht. Und auch hier lässt sich die Analogie vollenden: Bei Regelbrüchen mit Pyrotechnik strafen die Fußball-Verbände hart ab, bei rechtsextremen Gedenkfeiern und Investoren, die die 50+1-Regel lächerlich machen, zeigen sie sich derweil ganz kulant.
Nein, Fußball ist ganz gewiss nicht unser Leben. Man sollte ihn nicht zu ernst nehmen. Aber Fußball ist eben auch nicht nur ein Spiel. Im Kleinen passiert oft das gleiche wie im Großen. Deutscher Fußball und das Land, sie gehen quasi Hand in Hand – nur die Richtung erscheint zweifelhaft. Gut, dass es Ultras (so)wie Kevin Kühnert gibt.