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Auswärtsspiel

Auswärtsspiel: “Red Bull Leipzigs Überdehnung der 50+1-Regel ist befremdlich”

Im effzeh-com-“Auswärtsspiel” sprechen wir mit dem Leipziger Fußballexperten Bastian Pauly über die Fußballstadt Leipzig und die Auswirkungen des Engagements von Red Bull.

Unschuldige Freude: muss schön sein. (Foto: Boris Streubel/Bongarts/Getty Images)

Zu den Spielen unseres geliebten und glorifizierten ersten Fußballclubs Köln werden wir auch in dieser Saison einem Fan ein paar Fragen stellen. Und weil Gegner ja immer irgendwie “auswärts” sind, egal ob der effzeh zu Hause oder auf fremdem Platz antritt, und weil die Sichtweise von “auswärts” kommt, heißt die Kategorie folgerichtig “Auswärtsspiel”. Wir sind nicht nur gespannt, wieviel effzeh in den Anhängern der anderen Bundesligisten steckt, sondern erwarten auch eine Einschätzung zur Situation der gegnerischen Mannschaft.

Da die Redaktion von effzeh.com das Marketingkonstrukt Red Bull Leipzig ablehnt, haben wir uns entschieden, für dieses Auswärtsspiel einen Fan von BSG Chemie Leipzig zu befragen. Für das effzeh.com-“Auswärtsspiel” haben wir uns mit Bastian Pauly (@chemieblogger) einen Journalisten und Blogger eingeladen, der auf www.chemieblogger.de über den Leipziger Fußball schreibt.

Bastian, du bist neben deiner Tätigkeit als Journalist und Blogger auch Mitglied bei BSG Chemie Leipzig, der in der Oberliga Nordost unterwegs ist. Wie steht es momentan um deinen Herzensverein?

Nach vielen schwierigen Jahren der sportlichen Enttäuschungen, Insolvenzen und erbitterten vereinsinternen Streitigkeiten wandelt Chemie endlich auf soliden Pfaden. Das Wissen um die identitätsstiftende Geschichte prägt nun wieder deutlich stärker die Vereinspolitik. Die Fans werden gehört und ernst genommen, sie übernehmen wichtige Aufgaben in Gremien und bei der Spieltagsorganisation. Anders wäre es auch kaum möglich, denn die finanziellen Ressourcen sind beschränkt. Das Stadion, der Alfred-Kunze-Sportpark, ist ebenso traditionsreich wie baufällig. Die Ansprüche eines ehrlichen Fußballs erfordern Geduld, was die sportliche Entwicklung angeht. Nach dem Neustart 2008 in der letzten Liga ist Chemie seit dieser Saison immerhin fünftklassig. Ich hoffe, dass da noch nicht Schluss ist.

Die Leipziger Fußballgeschichte ist sowohl vor als auch nach der Wende reich an Anekdoten und Geschichten, was sich unter anderem auch in der Vergangenheit deines Vereins geäußert hat. Was macht den Verein für dich aus?

Leipzig war von jeher eine geteilte Fußballstadt. Die einen gingen zu Chemie nach Leutzsch, die anderen zum 1. FC Lok nach Probstheida. Die intensive Rivalität bestimmt das jeweilige Image beider Klubs. Zu DDR-Zeiten musste Chemie seine besten Spieler regelmäßig an das Leistungszentrum von Lok abgeben – weil es die Sportpolitfunktionäre so wollten. So etwa gingen per Beschluss vor der Saison 1963/64 die vermeintlich besten Spieler der Stadt nach Probstheida, die übrigen nach Leutzsch. Aber am Ende der Spielzeit wurde Chemie mit dem „Rest von Leipzig“ unter Trainer Alfred Kunze sensationell DDR-Meister. Die „Leutzscher Legende“ war geboren. Eine unglaubliche Geschichte, die noch heute jedes Kind im Block erzählen kann.

Wie hat die Wiedervereinigung den Leipziger Fußball beeinflusst?

Wie überall im Osten brachte die Wiedervereinigung Ernüchterung nach Fußball-Leipzig. Die Ansprüche waren hoch, Lok stand noch 1987 im Pokalsieger-Cup-Finale und Chemie hatte zwei DDR-Meisterschaften vorzuweisen. Nach 1990 interessierte das niemanden mehr, Lok nannte sich zwischenzeitlich wieder VfB und Chemie wurde für zwei Jahrzehnte zum FC Sachsen. Am Geld hatte es beiden Vereinen selten gefehlt, wohl aber an fundierten Konzepten. Mit jedem Abstieg, mit jeder Insolvenz und jeder Negativschlagzeile über Randale rückte der Profifußball in weitere Ferne. Als Red Bull 2009 kam, war Lok als Fünftligist der beste Leipziger Verein.

Was hat das Marketinginstrument Red Bull Leipzig seither in der Stadt angerichtet?

Der Dosenverkäufer hat viele Leipziger binnen sieben Jahren zu willfährigen Erfüllungsgehilfen gemacht. Rot-Weiß prägt jetzt das Stadtbild, während sich früher wegen der erbitterten Rivalität kaum einer traute, Grün-Weiß oder Blau-Gelb aufzutragen. Die Erfolge von RB Leipzig sind inzwischen ein selbstverständliches Smalltalk-Thema wie sonst nur das Wetter. Jeder redet mit, in meiner Facebook-Timeline haben Leute den Bundesliga-Aufstieg gefeiert, die von Fußball keine Ahnung haben. Lokalpolitiker jubeln über angeblich tausende neue Arbeitsplätze, zur Aufstiegsfeier auf dem Markt sang der Gewandhaus-Kinderchor uniform mit dem Bullenlogo auf der Brust. RB Leipzig inszeniert sich als das Gegenteil von dem, womit die Traditionsvereine identifiziert werden: unzeitgemäße Romantik, Finanzprobleme, Gewalt. Ein verfängliches Narrativ, das nicht richtiger wird, je öfter man es wiederholt.

Wie groß war die tatsächliche Sehnsucht in der Stadt Leipzig nach Bundesligafußball? Häufig wird der Sachverhalt so dargestellt, dass Red Bull dankenswerterweise gerade Leipzig für seine Marketingmaßnahme ausgewählt hat… stimmt das eigentlich?

Red Bull ist nicht gekommen, um den darbenden Leipzigern etwas Gutes zu tun. Red Bull ist gekommen, um Dosen zu verkaufen. Das scheint auch ganz gut zu funktionieren. Für 2015 vermeldete der Konzern erst kürzlich einen Rekordgewinn – bei einem einzigen Produkt, das noch dazu niemand braucht. In Leipzig gab es ideale Voraussetzungen für den Einstieg. Die Gründungstadt des DFB hat eine lange Fußballtradition. Bei Länderspielen war das Zentralstadion selbst gegen Leichtgewichte wie Liechtenstein sofort ausverkauft. Bei aller Euphorie gab es aber keinen Verein, der die WM-Arena füllen konnte. Die Öffentlichkeit gierte nach Profifußball. In Salzburg hat man das genau analysiert und Leipzig letztlich den Zuschlag erteilt.

Waren die Leipziger von Anfang an bereit, einen auf dem Reißbrett entwickelten Fußballverein vollends anzunehmen? Oder gab es auch Argwohn zu Beginn?

Vom ersten Tag an stieß das Projekt in der Stadt auf große Neugierde, Sympathie und Euphorie. Es gab Leute, die nach Jahrzehnten bei Chemie oder Lok ihren Schal im Schrank vergruben und seither zu RB gehen. Natürlich gab es Argwohn, allerdings eher bei denen, die etwas zu verlieren haben, bei den etablierten Vereinen und ihren Fans, nicht nur in Leipzig. Und bei Fußballromantikern wie mir, die sich ernsthaft darum sorgen, wo die Kommerzialisierung noch hinführt.

Wie schätzt du die Fanszene des Aufsteigers mittlerweile ein? Was sind typische Charakteristiken?

Die große Mehrheit der Stadionbesucher will guten und erfolgreichen Fußball sehen. Man gefällt sich in Selbstironie und greift plumpe Anwürfe à la „Alle Bullen sind Schweine“ genüsslich auf, um den Absendern deren Beschränktheit vorzuhalten. Bei fundierter Kritik aber neigen viele RB-Fans zu Dünnhäutigkeit. Es ist eben nicht nur toll, wenn man nicht dazugehören darf. Im Stadion gibt es auch kritische Gruppen wie die „Rasenballisten“, die jeden Bezug zum Geldgeber vermeiden wollen. Das ist ja ganz gut gemeint, aber ich kann es bis heute nicht nachvollziehen. Das ganze Projekt ist untrennbar mit Red Bull verbunden. Wer das ausblendet, ist schizophren. Andere Gruppen wie die „Red Aces“ imitieren die Ultrà-Bewegung, ohne jedoch das szenetypische Selbstverständnis vollständig zu übernehmen, etwa beim Thema Emanzipation und Mitbestimmung.

Mittlerweile ist September, Red Bull Leipzig ist zwar noch nicht Konsens, aber zumindest angekommen in der Bundesliga. Was wird das Marketingprojekt noch erreichen? Wo liegen deiner Meinung nach Grenzen und Potenziale?

Diese Saison reicht es für einen internationalen Startplatz, das habe ich auch schon vor der Saison gesagt. Die Proteste werden allmählich abklingen, wie das zuvor bereits mit Hoffenheim passiert ist. Das Projekt hat keine Grenzen und umso mehr Potenziale. Es ist befremdlich, mit welcher Chuzpe und Selbstgerechtigkeit die 50+1-Regel überdehnt wird. Ich kann mir vorstellen, dass das Beispiel Schule macht. Red Bull ist weder ein Investor, Sponsor noch Mäzen. Nein, es ist eine völlig neue Qualität. Ein Wirtschaftsunternehmen baut um seine Marke herum einen Fußballverein – das hat es noch nie gegeben. Und das unterscheidet das Projekt auch von Wolfsburg um Investor Volkswagen, Schalke um Sponsor Gazprom und Hoffenheim um Mäzen Dietmar Hopp. In allen Fällen ist der Verein die Marke, das Produkt der Fußball. In Leipzig ist es anders. RB Leipzig ist Deutschlands erster Marketingklub.

Auf der nächsten Seite: Prognosen, Medien und der Protest der Fanszene Köln.

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