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Analyse

Der 1. FC Köln unter Markus Gisdol: Systemabsturz?

Seit mehr als acht Monaten hat der 1. FC Köln in der Bundesliga kein Spiel mehr gewonnen. Ist der Gisdol-Fußball entschlüsselt? Wir blicken darauf in einer Taktik-Analyse.

Foto: MARIUS BECKER/POOL/AFP via Getty Images

Ein Gastbeitrag von: Denis (@Kylennep) vom Podcast TrotzdemHier

Der 1. FC Köln steht im Spätherbst 2020 ähnlich trist dar wie der grau-verregnete Himmel über Köln-Müngersdorf. Ziemlich genau seit dem Zeitpunkt, an dem Covid-19 erstmals nachhaltiger in Deutschland von sich reden machte, wartet der FC wieder mal auf einen Sieg. Kinder wurden im März 2020 geboren und haben den einstmals ruhm- und glorreichen 1. FC Köln in ihrem ganzen Leben noch nicht siegen sehen. Schnell werden da natürlich Rufe laut, die Sieglosserie am Trainer festzumachen und entsprechende Konsequenzen zu ziehen. Dieser Artikel soll der Frage nachgehen, ob und wie viel Schuld das Trainerteam um Markus Gisdol an den Misserfolgen hat – indem wir auf seine taktischen Vorgaben schauen.

Vorab sei gesagt, dass es viele Faktoren gibt, die auch der beste Trainer der Welt nicht beeinflussen kann. Wenn gefühlt jedem Abwehrspieler ein grober Schnitzer unterläuft, der zu einem Elfmeter führt (fünf Strafstöße in sieben Saisonspielen), beim kollektiven Herausrücken immer ein Abwehrspieler den einen entscheidenden Schritt zu spät ist oder der Torwart eigentlich haltbare Bälle passieren lässt, sind das Faktoren, die man von außen kaum beeinflussen kann. Auch muss Markus Gisdol zugute gehalten werden, dass alle statistischen Werte (Laufleistung, Zweikampfbilanz, selbst teilweise Torabschlüsse) eigentlich besser aussehen, als es die Bilanz von drei Punkten vermuten lässt. Aber wir werden gleich sehen, dass etwa die Laufwerte auch trügerisch sein können.

Das fehlgeleitete Pressing des 1. FC Köln

Viel wird geschrieben und gesprochen vom sogenannten „Gisdol-Fußball“. Meistens meint man damit ein eher wildes Pressing auf die Aufbauspieler des Gegners mit – im Idealfall – Ballgewinn in gefährlichen Zonen. Nach der Balleroberung soll das Spielgerät dann möglichst schnell auf einen durchstartenden Flügelspieler durchgesteckt werden, der schnell hinter die Abwehrkette durchstarten kann und dann entweder selber Richtung Tor zieht, nach innen flankt oder in den Rückraum ablegt. Als exemplarisch für diesen Spielstil muss wohl das Ausgleichstor gegen Frankfurt betrachtet werden, als Kingsley Ehizibue im Zusammenspiel mit Marius Wolf der Durchbruch auf rechts gelingt und dieser im Strafraum den aufgerückten Ondrej Duda fand. Allerdings ist das auch das einzige Tor in dieser Saison, das auf diese Art und Weise fiel.

Foto: Ronald Wittek – Pool/Getty Images

Dafür gibt es natürlich Gründe: Offenbar war die Gisdol-Taktik zum Anfang seiner Amtszeit anscheinend noch überraschend für viele Gegner und hat diese sprichwörtlich auf dem falschen Fuß erwischt – jedoch haben eigentlich alle Trainer der Bundesliga die pandemiebedingte Unterbrechung im März dazu genutzt, um verstärkt gründliche Videoanalysen durchzuführen und für Spiele gegen den FC entsprechende Gegenmaßnahmen einzuleiten. Die Sieglosserie fällt daher nicht zufällig in die Geisterspielzeit und hat eben nicht nur mit fehlenden Zuschauern zu tun.

Die Gegenreaktion Gisdols blieb aus

Die meisten Trainer reagierten, indem sie möglichst schnelle Spieler auf die Flügel stellten, um diese Durchbrüche auffangen zu können oder schlicht ihren Mittelfeldspielern befahlen, sich weiter fallen zu lassen, um den Aufbauspielern der Innenverteidigung weitere Passoptionen auch unter Druck zu eröffnen. Auch wurde das Mittelfeld häufiger ganz einfach überspielt und es kam zu den berühmten langen Bällen, mit denen sich die FC-Abwehr schon seit der Ära Markus Anfangs in der Zweiten Liga schwertut – exemplarisch sei hier das Spiel am zweiten Spieltag der laufenden Saison gegen Arminia Bielefeld genannt, als ein langer Ball von Torwart Ortega genügte, um ganz Köln bis ins Mark zu erschüttern.

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Was nun aber ausblieb, ist eine Gegenreaktion Gisdols. Stattdessen hat man das Gefühl, dass sowohl die Qualität als auch die Intensität des Pressings rückläufig sind. Das Pressing wirkt speziell in der aktuellen Saison häufig situativ und nicht einstudiert, sondern eher wie ein verzweifeltes Anlaufen zweier Spieler als individuelle Entscheidung, auf das der Rest der Mannschaft aber nicht gruppentaktisch reagiert. Häufig sah man etwa Sebastian Andersson den aufbauenden Innenverteidiger anlaufen, während Ismail Jakobs eine Passoption des gegnerischen Ballführenden aggressiv anlief – der zweite Innenverteidiger und auch das defensive Mittelfeld des Gegners aber nicht unter Druck gesetzt wurden, weil sich alle anderen Spieler zeitgleich zurückzogen. So kann der ballführenden Innenverteidiger den Ball relativ entspannt trotz des Pressings durch Andersson zu mindestens zwei Mitspielern (plus Torwart) passen und diese den Ball ohne Druck verarbeiten. Ballgewinne sind so nur durch Fehler des Innenverteidigers zu erwarten.

Grafik: trotzdemhier.de

Speziell Ondrej Duda wird hier im Pressing noch zu selten eingesetzt (außer im Spiel gegen die Bayern, wo er der laufstärkste Spieler auf dem Platz war), er soll sich wohl mit zurückziehen, um aus einem möglichen tiefen Ballbesitz einen Umschaltmoment einleiten zu können. Fairerweise muss man aber anfügen, dass solche mannschaftstaktischen Pressingmomente Zeit zum Einstudieren brauchen und es daher tatsächlich mildernd anzuführen ist, dass die Mannschaft erst spät komplett beieinander war – wie Horst Heldt gebetsmühlenartig anführt – und auch in den Länderspielpausen bis zu neun Stammspielern entweder angeschlagen ausfielen (Andersson, Modeste, Hector, Höger) oder auf Reisen waren (Limnios, Duda, Jakobs, Özcan, Skhiri, Bornauw).

Ein wirkliches Einüben von Pressingmustern oder gar alternativen Ansätzen zum „Gisdol-Fußball“ war so kaum möglich.

Welche Alternativen stünden zur Verfügung?

Mit Jhon Cordoba als absolute Pressingmaschine und Mark Uth als der Spieler, der die Signale auf dem Platz zum Pressen gab, haben zudem zwei für diese Art Fußball extrem wichtige Spieler den Verein verlassen, die mit anderen Spielertypen (Andersson, Duda) ersetzt wurden, die ihre Stärken eben nicht beim Anlaufen haben, sondern über andere Qualitäten verfügen.

Foto: Kirchner/Christopher Neundorf/Imago Images

Auch muss man kritisch anführen, dass die gesamte restliche Transferpolitik es gar nicht erlaubt, großartige Alternativen einzustudieren, denn alle Transfers außerhalb von Andersson und Duda waren komplett auf den „Gisdol-Fußball“ ausgerichtet: Gerade Marius Wolf muss als typischer Gisdol-Spieler angesehen werden, auch Dimitrios Limnios fällt mit Abstrichen in diese Kategorie. Spieler, die potentiell ein Spiel aus dem Mittelfeld gestalten und Ballbesitzphasen erlauben würden, wurden allesamt abgegeben (Verstraete, Schaub, Koziello) oder lange Zeit verschmäht (Salih Özcan). Dass zudem noch Kapitän Jonas Hector mehrere Spieltage in Folge ausfallen würde, konnte natürlich niemand ahnen. Auch erlaubt es der Mangel an unterschiedlichen Stürmertypen nicht, auf ein System mit zwei Spitzen umzustellen, da kaum ein Spielertyp im Kader den gesetzten Andersson gut ergänzen könnte. Hier müsste man eigentlich kreativ werden und dem jungen Lemperle oder Jan Thielmann eine Chance geben, wenn man denn mit zwei Spitzen spielen wollte.

Zudem hat das Testspiel gegen den VfL Bochum vom 13. November (Endstand 1:3) schonungslos gezeigt, dass sich aus der zweiten Reihe kaum Alternativen aufdrängen.

Die Einfachheit der Offensivstrukturen

Gisdol möchte aber auch weder personell noch systemisch am ganz großen Rad drehen. Er hat sich zwar jüngst taktisch ein wenig flexibler als zuletzt gezeigt – nach einem gescheiterten Versuch mit einem 3-2-4-1 gegen Gladbach (obwohl man die Dreierkette im Sommer sogar einstudiert hat), spielt man seit nunmehr zwei Spielen ein klar erkennbares 4-1-4-1, das aber in seiner Ausführung eher als eine Variante des klassischen 4-2-3-1 gesehen werden muss, bei der der eine Sechser durch einen Achter-Spielertypen (Drexler) ersetzt wird. Strukturell ist aber trotzdem weiter alles auf Flügeldurchbrüche ausgerichtet und fast jeder Ball geht auf den zwar pfeilschnellen Iso Jakobs, der aber mit der Last des alleinigen Offensivaufbaus sichtlich überfordert und als Spielertyp dafür auch zu limitiert ist. So bleibt ihm meist nicht viel als gegen zwei Gegenspieler irgendwie zu versuchen, durchzubrechen, was selbst einen Kylian Mbappé vor große Herausforderungen stellen würde – das ist schlicht zu viel verlangt von einem 21-Jährigen, der in der Jugend zumeist Linksverteidiger gespielt hat.

Und selbst wenn es ihm gelingt, bis an die Grundlinie vorzudringen, muss sich innen Andersson immer noch gegen zwei meist großgewachsene Innenverteidiger durchsetzen. Die Torwahrscheinlichkeit sinkt somit mit jeder einzelnen dieser Mikroszenen, die allesamt perfekt laufen müssen, um überhaupt eine Torchance zu generieren.

Übrigens kommen die hohen Laufwerte genau daher: Jakobs muss wie ein Duracell-Hase sowohl im Pressing als auch im Ballbesitz enorme Wege gehen (Rekord-Sprintwert!) und das tiefstehende FC-Mittelfeld irgendwie versuchen, schnell nach vorne zu kommen. Dabei werden ganz automatisch viele Kilometer abgespult und die Mannschaft ist sichtlich fit, aber die meisten dieser Wege sind eben umsonst, da sich entweder der Flügelspieler gar nicht erst durchsetzt oder es keine einstudierten Pass- und Freilaufwege gibt und auch die individuelle Positionsfindung beim 1. FC Köln gelinde gesagt suboptimal ist.

Kompletter Verzicht auf Pressing: Beispiel Bremen

Gisdol reagiert nun aber auf all die genannten Probleme nicht, indem er sich Offensivunterstützungen für Jakobs überlegt oder Passwege einstudieren lässt oder gar etwas komplett Überraschendes wie etwa einen Zwei-Mann-Sturm aus dem Hut zaubert. Sondern er reagierte gegen Bremen, indem er das Pressing einfach komplett einstellen ließ. Bremen durfte im Aufbau machen, was es wollte und so kamen die drei Bremer Innenverteidiger auf mehr Ballbesitz als die komplette Mannschaft des 1. FC Köln zusammen. Beispielhaft diese Szene aus der 34. Spielminute:

Grafik: trotzdemhier.de

Statt die Innenverteidiger anzulaufen, zog sich der FC komplett ins Mittelfeld zurück. Dort wurde aber nicht allzu mannorientiert gespielt, sondern es ging eher darum, die Passwege zuzustellen und so ein Netz zu spinnen, indem sich die Bremer Bälle verfangen sollten. Von dort aus sollte man schnell umschalten und erneut die Flügel bespielen. Die spätere Einwechslung von Elvis Rexhbecaj für Limnios verstärkte diesen Ansatz noch. Immerhin brachte Salih Özcan, der eher überraschend für Skhiri auf der alleinigen Sechs spielte, das Element der Spielverlagerung in das Repertoire – etwas, das man bis dato selten gesehen hatte. Allerdings gelangen auch ihm viele dieser weiten Pässe nicht.

Dieser zurückweichende Ansatz wird häufig von Trainer gewählt, die eine verunsicherte Mannschaft trainieren: erst einmal Sicherheit reinbringen. Jedoch hat er auch eine logische Sollbruchstelle: Bundesligaspieler spielen nicht einfach so Fehlpässe, wenn sie nicht unter Druck gesetzt werden und so hatte Bremen nicht nur doppelt so viel Ballbesitz wie der 1. FC Köln (67:33), spielte doppelt so viele Pässe (648:313) und zudem auch die höhere Passquote (90:76 Prozent). Bei einem drucklosen Ansatz ist man darauf angewiesen, seine direkten Duelle gegen den Gegenspieler zu gewinnen. Gegen ebenfalls spielerisch nicht brillante Bremer hat das lange genügt, um die Null zu halten, jedoch darf es auch nicht überraschen, dass das Pendel zugunsten der Bremer ausschlug, als der individuelle überlegene Tahith Chong eingewechselt wurde. Zusätzlich waren die Rheinländer zu eigentlich jeder Phase des Spiels weit davon entfernt, das Bremer Tor in Gefahr zu bringen.

Tl: dr: Gisdol raus?

Markus Gisdol muss sich nun die Frage gefallen lassen, ob ein solch defensiver, passiver Ansatz gegen den 16. der vergangenen Saison, der zudem Schlüsselspieler Davy Klaassen verloren hatte, wirklich angemessen war. Zumal man in der Woche davor, gegen die übermächtig scheinenden Bayern, mit einer forscheren Spielweise nah dran war am Punktgewinn und die Aufstellung im Bremen-Spiel eigentlich mit das Offensivste war, was der FC zu bieten hat: mit Özcan für Skhiri und Drexler gemeinsam mit Duda in der Startelf, Wolf als Rechtsverteidiger sowie Katterbach als sein linkes Pendant standen eigentlich Spieler auf dem Platz, die Fußball offensiver interpretieren können, als am vorvergangenen Freitag gezeigt. Daher muss man zu dem Schluss kommen, dass Personal und Ausrichtung nicht zwingend zueinander gepasst haben.

Foto: Maja Hitij/Bongarts/Getty Images

Das Problem ist also nicht der „Gisdol-Fußball“, sondern eher das Abrücken von selbigem. Zunächst, indem das Mittelfeld nicht mehr konsequent nachgeschoben und die beiden Pressingspieler dabei allein gelassen hat, gegen Bremen dann der völlige Verzicht auf irgendeine Art von Druck auf den Gegner.

Hier muss Gisdol ansetzen: Horst Heldt hält nibelungentreu an ihm fest, die Transferpolitik war zu großen Teilen auf seine Idee von Fußball ausgerichtet, alle Spieler (außer Kainz und Modeste) stehen zur Verfügung, gerade mit Hector kommen Qualität und spielerische Klasse zurück, auch Andersson wurde durch einen kleinen Eingriff am lädierten Knie hoffentlich fitter gemacht, als er zuvor war: Es wird also nun gegen Union Berlin darauf ankommen, wieder den Fußball zu zeigen, der bis Februar 2020 zu acht Siegen aus zehnSpielen geführt hatte. Gisdol muss beweisen, dass er zurück zu diesen Stärken finden, dass er Uth und Cordoba ersetzen und dass er die Stärken von Duda und Andersson gewinnbringend einbauen kann – anstatt seine Spielidee immer weiter zu verwässern und damit den FC auch der letzten Stärke noch zu berauben. Sollte ihm all das nicht gelingen, muss man die Frage aus der Überschrift dieses Abschnittes mit „Ja“ beantwortet werden.

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