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EM-Momente des 1. FC Köln: Kölsche Sternstunde im Halbfinale und der Nachthimmel von Belgrad

Die Europameisterschaft 2020 ist mit einem Jahr Verspätung nun im vollen Gange – auch unter Beteiligung des 1. FC Köln. In unserer Reihe “Kölsche EM-Momente” blicken wir in der zweiten Folge auf die kölsche Sternstunde bei der Endrunde 1976 und einen Elfmeter im Belgrader Nachthimmel.

Europameisterschaft 1976. Halbfinale: Jugoslawien - Deutschland (2:4 n.V.) am 17.6. in Belgrad. Jubel nach dem 2:2 durch Dieter Müller, der hier von Heinz Flohe (15) umarmt wird. Hinten: Erich -Ete- Beer. HM European Championship 1976 Semi-finals Yugoslavia Germany 2 4 n v at 17 6 in Belgrade cheering After the 2 2 through Dieter Mueller the here from Heinz Flohe 15 embraces will rear Erich Ete Beer HM
Foto: imago images / Horstmüller

Die Erinnerungen an die EM 76? Uli Hoeneß schießt Elfmeter in die Wolken, Panenka verwandelt listig. Finale verloren. Tschechoslowakei Europameister … Ende! Das ist die Kollektiverinnerung an diese Endrunde. Dass es sich um eines der spannendsten und auch hochklassigsten Turniere aller Zeiten handelte, ist heutzutage kaum mehr bewusst. Noch dazu mit sehr prägender Beteiligung von Spielern des 1. FC Köln. Auch wenn es nur ein „Mini-Turnier“ war, bestehend aus zwei Halbfinals, dem Spiel um Platz drei und dem Finale, jedes einzelne Spiel ging in die Verlängerung und hat seine eigene Geschichte.  Lediglich drei Tage dem epischen 4:2-Halbfinalsieg Deutschlands über Jugoslawien fand bereits das Finale der Europameisterschaft 1976 in Belgrad statt. Die DFB-Elf traf, sicher etwas unerwartet, auf die Auswahl der Tschechoslowakei, welche sich nach hartem Kampf im ersten Halbfinale in Zagreb mit 3:1 nach Verlängerung gegen die favorisierten Niederländer durchsetzen konnte.

Das aus vieler Sicht erwartete und auch erhoffte Traumfinale Deutschland gegen Holland war damit nicht mehr möglich. Zwei Jahre nach dem verlorenen WM-Finale von München hätte “Oranje” um Superstar Johan Cruyff liebend gerne Revanche genommen. Der Stachel des verlorenen Finales saß tief und es gibt Expertenstimmen, die heute noch sagen, dass auf Seiten der Niederländer die Tschechoslowakei nicht richtig ernst genommen wurde. Die “Elftal” war von seiner Stärke dermaßen überzeugt, dass die Halbfinalpartie eher als Vorspiel auf das Finale gegen die Deutschen gesehene wurde. Einmal mehr scheiterte die damals von vielen als beste Nationalmannschaft der Welt angesehene niederländische Nationalmannschaft also auch an ihrer eigenen Überheblichkeit.

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Keine Revanche für Cruyff

Was damals noch niemand wusste, Cruyff spielte bei der Europameisterschaft bereits sein letztes Turnier und dieses bestand auch nur aus einem Spiel, in welchem er zu allem Verdruss seine im Wettbewerb zweite gelbe Karte sah. Somit war er für das nächste Spiel gesperrt, aber ein damals noch ausgespielter dritter Platz war für den eigenwilligen und manchmal überehrgeizigen Weltstar eh nicht von Belang. Ein Jahr später trat Cruyff schließlich aus der “Elftal” zurück, zu einer Revanche zwischen der Niederlande und Deutschland kam es mit ihm als Spieler nicht mehr. “Oranje” aber sicherte bei der EM ohne Cruyff den dritten Platz durch einen 3:2-Sieg nach Verlängerung über Gastgeber Jugoslawien.

Die Tschechoslowakei nicht ernst zu nehmen, diesen Fehler wollte die deutsche Mannschaft sicher nicht machen und dazu gab es auch keinen Anlass. Die Ost-Europäer hatten schließlich England und Portugal in der Qualifikation hinter sich gelassen. Im mit Hin- und Rückspiel ausgetragenen Viertelfinale, welches 1976 letztmalig dem Endturnier vorgelagert war, wurde die UdSSR ausgeschaltet. Zu guter Letzt dann der harte Kampf und der bereits erwähnte Sieg nach Verlängerung über die hohen Favoriten um Cruyff, Neeskens, Rep, Krol und van de Kerkhof. Nein, die Mannschaft war der damals auch schon nicht mehr komplett Namenlosen war keineswegs zu unterschätzen.

Europameisterschaft Halbfinale, Jugoslawien - BR Deutschland in Novi Sad: Dieter Müller li. und Bundestrainer Helmut Schön beide BRD jubeln nach Spielschluss

Foto: imago images / Horstmüller

Die Final-Teams hatten sehr harte Halbfinals zu absolvieren, beide Spiele gingen in die Verlängerung und waren auch mental anstrengend. Die Tschechoslowakei hatte den leichten Vorteil, einen Tag länger regenerieren zu können, da sie das erste Halbfinale spielten und somit einen Tag früher dran waren als die DFB-Elf. Sicher kein spielentscheidender Umstand für das Finale, aber es wird den Spielern aus den heutigen Ländern Tschechien und der Slowakei nicht geschadet haben. Personell war der Außenseiter, so sah man die Osteuropäer trotz 19 Spielen ohne Niederlage, leicht geschwächt, denn im Halbfinale gegen die Holländer war Spielgestalter Jaroslav Pollák mit der roten Karte vom Platz gestellt worden.

Die “kölsche Frage”: Spielen Müller und Flohe von Beginn an?

Bei den Deutschen war indes unklar, wie Bundestrainer Helmut Schön nun mit der „kölschen Frage“ umgehen würde. Zur Erinnerung: Dieter Müller und Heinz Flohe hatten dem deutschen Team trotz eines 0:2-Rückstands noch den Einzug in das Finale ermöglicht. Der Angreifer durch sein Sensations-Debüt mit drei Treffern sowie “Flocke”, der dem stockenden Motor im Mittelfeld unermüdlich neue Taktfrequenzen vorgab und den wichtigen Anschlusstreffer erzielte. Das Duo des 1. FC Köln war erst spät in die Mannschaft gekommen – Flohe ab der 46. Minute, Müller gar erst in Minute 79. Es war alles andere als selbstverständlich, dass beide im Finale spielen würden, galt Schön doch als Flohe-Kritiker und auch mit Dieter Müller sollte der Sachse nicht richtig warm werden. Doch die ganze Fußball-Welt hatte das Halbfinale gesehen und niemand konnte sich vorstellen, dass die beiden FC-Stars erneut nur als Bankangestellte ins Spiel gehen würden.

“Das ist eine Schweinerei. Ich wäre an Flohes Stelle nach Hause gefahren.”

Doch Schön sah es einmal mehr anders als die Berichterstatter sowie weitere Protagonisten aus dem Fußballbetrieb, die an der Belgrader Hotelbar über die bereits durchgesickerte Aufstellung am Folgetag debattierten. Dieter Müller konnte der Bundestrainer alleine schon wegen der weltweit beachteten Debüt-Show mit drei Toren nicht aus der Mannschaft nehmen. Heinz Flohe hingegen verpasste erneut die Startelf. Trotz Torerfolg und Topleistung ließ Schön den Kölner erneut draußen. Schalkes Vorsitzender Günter Siebert, in Belgrad, um den jugoslawischen Torwart Enver Maric zu verpflichten, zeigte an der Hotelbar seine Fassungslosigkeit vor den Journalisten mit drastischen Worten: “Das ist eine Schweinerei. Ich wäre an Flohes Stelle nach Hause gefahren.“ Das entsprach über alle Vereinsgrenzen hinweg der allgemeinen Stimmung. An den Stammtischen in Hamburg, München oder Freiburg wurde die Personalie ähnlich besprochen.

Flohe blieb trotz Sieberts Äußerung natürlich und er sah wie alle anderen, das Schön abermals auch seinen schon lange bevorzugte Block aus Bayern- und Mönchengladbach- Spielern setzte, der das Gros der Mannschaft stellte. Das Spiel begann und die Tschechoslowakei schien die deutsche Elf mit ihrem Tag mehr Regeneration direkt überrollen zu wollen. Nach acht Minuten bereits sah die Abwehr um den in seinem 100. Länderspiel nicht immer sattelfesten Franz Beckenbauer recht chaotisch aus. Ján Švehlík konnte nach vorheriger Schußchance – Maier hatte den Ball zur Seite abgelenkt – den nach innen geschlagenen zweiten Ball aus fünf Metern unbedrängt links unten ins Tor schieben. 1:0 für die ČSSR, wie sie in Kurzform offiziell hieß.

Wieder ein 0:2-Rückstand, wieder ein Müller-Tor

Die Schön-Truppe wehrte sich und hatte Möglichkeiten auf den schnellen Ausgleich. Doch Bonhofs scharf geschossener direkter Freistoß verpasste zunächst knapp das Tor und auch Hölzenbeins Großchance aus etwa 11 Metern, diagonal zum Tor, konnte Torhüter Ivo Viktor mit einer Top-Parade noch aus dem Winkel fischen. Stattdessen legte die Tschechoslowakei nach, Beckenbauer hatte am Fünfmeterraum stehend eine Freistoß-Flanke per Kopf ins Zentrum nach vorne abgewehrt. Der Ball landete praktisch in den Lauf von Abwehrspieler Karol Dobiaš, der aus etwa siebzehn Meter abzog, das Leder aber nicht perfekt traf. Es war daher kein besonders scharfer Schuss, doch der Ball setzte gleich mehrfach auf und vielleicht war Sepp Maier zusätzlich auch die Sicht versperrt. Aber es gab Tage, da hat die Bayern-Legende solche Bälle auch gehalten. Diesmal nicht, der Ball schlug flach unten rechts ein und nach nur 25 Minuten lag Deutschland wie Halbfinale mit 0:2 zurück.

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Es hätte noch schlimmer kommen können, denn nur kurz danach ließen die Tschechoslowaken die Großchance auf das 3:0 liegen, als Marián Masný alleine auf das deutsche Tor zulief und die Kugel nur um Zentimeter am rechten Torpfosten vorbeisetzte. Die Abwehr des amtierenden Welt- und Europameisters war erneut düpiert worden, wie lange nicht mehr. Die DFB-Elf hatte den Start komplett verschlafen, doch sie besann sich auf das kämpferische. Bereits drei Minuten nach dem 0:2 traf erneut Dieter Müller und brachte so die Hoffnung zurück. Er konnte einen von rechts von der Strafraumlinie hinein gelupften Chipball von Rainer Bonhof verwerten, hatte die gegnerische Abwehr den Kölner Mittelstürmer doch mutterseelenalleine am Fünfmeterraum stehen lassen. Der Kölner Sturmführer nahm den Ball volley und es schlug unten links im Netz ein. Das zweites Länderspiel, das vierte Tor in zusammengefasst 68 Minuten – und das auch noch bei einer EM-Endrunde. Eine Länderspielkarriere so zu beginnen, das muss man erst einmal so hinkriegen.

Das Spiel war nun deutlich ausgeglichener, beide Teams waren nun im Finale angekommen und reduzierten ihre Fehlerquote. Trotz einiger Halbchancen auf beiden Seiten blieb es zur Pause bei der knappen 2:1-Führung für die Tschechoslowakei. Zur zweiten Halbzeit lief dann endlich auch FC-Star Heinz Flohe auf. Der Kölner kam für den Gladbacher Herbert Wimmer, von dem trotz Kampf nicht viel ausgegangen war. Flohe beeindruckte in der zweiten Hälfte erneut. Die Impulse, die er bereits im Jugoslawien-Spiel eingebracht hatte, gingen auch diesmal von ihm aus. Er brachte Zug in die Aktionen und ordnete das Mittelfeld. Allerdings wollte ihm diesmal kein Treffer gelingen, wenn er auch mehrfach zu seinen gefürchteten Weitschüssen ansetzte und dabei einmal auch den Pfosten touchierte.

Flohe erneut der Dampfmacher – Später Lohn dank Hölzenbein

Die Deutschen waren spielbestimmend, die ganz große Durchschlagskraft entwickelte sich jedoch nicht. Die Zeit verrann, die Dramatik stieg, Hannes Bongartz kam in der 80. Minute noch für den wirkungslosen Erich Beer. Schließlich wollte es auch der Kaiser in seinem großen Jubiläumsspiel noch einmal wissen, drang in der 83. Minute in den Strafraum ein und wurde elfmeterverdächtig gefoult. Doch Schiedsrichter Gonellas Pfeife blieb stumm. Es wurde eng, die Minuten vergingen und die Niederlage schien Formen anzunehmen. Dann die 90. Minute und die vermutlich allerletzte Gelegenheit eines Standards: Eine scharf geschossene Ecke für Deutschland durch Bonhof, sehr nah ans Tor, fast zu nah. Der herausragende Torwart Viktor kam diesmal einen Tick, eine Zehntelsekunde zu spät, Bernd Hölzenbein hielt den Kopf hin – Drin – und auf einmal hieß es 2:2. Wie so oft in der DFB-Historie gelang ein Last-Minute-Tor, so wie Schnellinger in Mexiko oder „Bulle“ Weber in Wembley praktisch mit dem Schlußpfiff getroffen hatten. Es wurde gar nicht erst wieder angepfiffen. Schon wieder Verlängerung!

Bildnummer: 02535929 Datum: 20.06.1976 Copyright: imago/Sven Simon Torjubel BR Deutschland, v.li.: Heinz Flohe, Torschütze Bernd Hölzenbein und Dieter Müller, außerdem: Anton Ondrus (Tschechoslowakei) schaut sich um; CSSR - BRD 7:5 n.E., Vneg, Vsw, quer, Hintertor, Hintertorkamera, Hintertorperspektive, Perspektive, Durchblick, Netz, Tornetz, Jubel, jubeln, umarmen EM 1976, Nationalmannschaft, Nationaltrikot, Finale, Endspiel Belgrad Freude, Begeisterung, Fußball Länderspiel Herren Mannschaft Gruppenbild optimistisch Aktion Personen

Foto: imago images / Sven Simon

Die Schön-Elf blieb zwar spielbestimmend, doch das Spiel litt nun deutlich unter den vielen Wadenkrämpfen der Protagonisten. Immer wieder sanken Spieler beider Mannschaften zu Boden und mussten entsprechend behandelt werden. Es war die zweite Verlängerung in nur vier Tagen für die Tschechoslowaken, für die Deutschen gar innerhalb von nur drei Tagen. Das machte sich bemerkbar, zumal die Trainingssteuerung im Jahr 1976 sicher eine andere war als in heutiger Zeit. So tat sich nicht mehr sehr viel vor den Toren und nach 120 Minuten stand es nach wie vor 2:2. Eine Entscheidung musste her, doch erstmals wurde diese nicht in einem Wiederholungsspiel durchgeführt. Erst wenige Stunden vor dem Finale hatte der DFB erwirkt, ein nur zwei Tage später stattfindendes „mörderisches“ Rückspiel, gerade in Anbetracht der vielen Verlängerungen in so kurzer Zeit, durch ein Elfmeterschießen zu ersetzen. Dummerweise hatte man die Mannschaft nach Zusage der UEFA nicht darüber unterrichtet und so war man auf Seiten der Spieler doch sehr überrascht. Was noch so neu ist, konnte noch nicht erlernt sein und so fehlte es an Elfmeterschützen, die ihr Ja-Wort gaben. Co-Trainer Jupp Derwall war es schließlich, der sich auf die Suche machte.

Die Suche nach den Elfmeterschützen

In einem Jahrbuch des Copress-Verlags wurden die Antworten der von Derwall angesprochenen Spieler dokumentiert, diese sollen hier zitiert werden:

Bernard Dietz: “Nein, ich nicht. Ich fall auf der Stelle um. Ich bin kaputt.”
Franz Beckenbauer: “Oje, ich weiß nicht, ob ich mit meiner verletzten Schulter (!) schießen kann.”
Uli Hoeneß: “Ich kann nicht. Ich bin völlig ausgepumpt.”
Katsche Schwarzenbeck: “Ich habe neun Jahre keinen Elfmeter geschossen. Warum soll ich ausgerechnet heute?”
Sepp Maier meldet sich freiwillig: “Dann schieße eben ich.”
Beckenbauer: “Kommt nicht in Frage. Du gehst ins Tor. Basta, ich schieße schon.”
Maier: “Dann schieße ich für den Uli.”
Hoeneß: “Lass mal Sepp. Ich schieße schon.”
Müller: “Ich hab nicht die Nerven dazu. Das ist doch erst mein zweites Länderspiel.”
Heinz Flohe: “Ich fühle mich sicher.”

Nun sind es mit Bonhof, den keiner fragen musste, Hoeneß, Flohe und Beckenbauer vier. Da meldet sich Hannes Bongartz: “Okay, ich bin auch dabei”, so der damalige Schalker. Dass Flohe sich sicher fühlte, war kein Wunder, hatte der Euskirchener doch alle Elfmeter seiner Karriere bis dahin (und auch später) verwandeln können. Es war quasi eine Spezialdisziplin für ihn. Müllers Aussage klingt nach seinem Torjäger-Einstand zunächst überraschend, entspricht aber seinem eher schüchternen Naturell zu jener Zeit. Trotz seiner vier Treffer aus dem Spiel heraus, einen Elfmeter in so einer Situation zu schießen, ist noch einmal etwas anderes. Gerade als Newcomer.

“Ich hab nicht die Nerven dazu. Das ist doch erst mein zweites Länderspiel.”

Sorgen machte man sich um den deutschen Torhüter, denn bei aller unbestrittenen Klasse, ein Elfmetertöter war Sepp Maier beileibe nicht. In der Bundesligastatistik findet man seinen Namen erst auf dem siebenfach geteilten 20. Rang, auf dem ersten Platz steht dort übrigens ein gewisser Rudi Kargus (damals HSV, später ohne Einsatz beim FC), der in Belgrad als deutsche Nummer Zwei auf der Bank saß und zusehen musste, wie sich der Weltmeister von 1974 vergeblich streckte. Maier hatte in diesem ersten Elfmeterschießen auf großer Bühne übrigens eine im Nachhinein diskussionswürdige Taktik gewählt. Heute ist es üblich, dass Torhüter den Augenkontakt zum Schützen suchen, um in ihn zu dringen, im Optimalfall ihn so aus der Fassung zu bringen. Für Maier war das Szenario eben auch neu, so entschied er sich für eine eigene Form der Konzentration. Er drehte den Schützen den Rücken zu, verharrte leicht nach vorne gebeugt in sich und drehte sich erst kurz vor der Ausführung um. Eine Taktik, die er wohl heute selbst kritisch sieht und die auch keine Nachahmer gefunden hat. Schließlich hat der Schütze ausreichend Zeit, sich ohne Ablenkung zu überlegen, wo der Ball am besten hin soll.

Das Schelmenstück des Antonín Panenka

Die Elfmeter von Masny, Nehoda, Ondrus und Jurkemik waren allesamt gut geschossen und überwanden den Münchener. Bonhof, Flohe und Bongartz konnten dreimal sicher ausgleichen. Dann war es an Uli Hoeneß, den vierten Elfmeter zu verwandeln. Was nun kam, ist leider das meiste, was von dieser EM in Erinnerung blieb. Hoeneß beförderte den Ball in den Nachthimmel von Belgrad, was übrigens viele Augenzeugen bereits erkannt haben wollten, als Hoeneß unsicher und sichtbar körperlich am Ende Richtung Punkt schlich. Der dann folgende Elfmeter zum 5:3 von Antonín Panenka war dann das Sahnehäubchen auf ein wahrhaft großes Finale. Panenka lief etwa zehn Meter mit ausreichend Geschwindigkeit für einen scharfen Schuss an, doch am Spielgerät angekommen schnibbelte er das Bällchen gekonnt und mit Raffinesse Richtung Tormitte. Vom Schlussmann aus gesehen hatte Maier – in Erwartung eines knallharten Schusses – diese Tormitte bereits Richtung linkes Eck verlassen. Nun musste er, noch mitten in der Bewegung, wehrlos zuschauen, wie das runde Leder aufreizend langsam genau die Stelle passierte, wo er Bruchteile zuvor selbst noch gestanden hatte.

Foto: imago images / Horstmüller

Das war alles so neu, das nicht wenige Zuschauer am TV erst gar nicht realisierten, was da gerade geschehen war. War der Ball wirklich drin? Ja, war er. Was für ein freches Ding, ein regelrechtes Schelmenstück des „Schwejk“ von Belgrad, der den Namen Panenka trug und sich mit dieser Premiere eines solchen Elfmeters unsterblich gemacht hat. Der Schütze hat in späteren Interviews betont, dass er diesen Elfmeter bereits in der tschechoslowakischen Liga einige Male erfolgreich umgesetzt hatte. Lediglich bei einem Freundschaftsspiel bei Dauerregen hatte der Torwart den Elfer gehalten, weil er sich nicht in den Matsch werfen wollte und einfach stehen blieb und somit den dann natürlich harmlosen Schuss mit einer Hand fangen konnte. Sich so etwas dann in einem EM-Finale noch einmal zu trauen, das ist schon ein starkes Stück. In diesem Falle, ein Stück Fußballgeschichte. Das erste Elfmeterschießen auf dieser Ebene verlor Deutschland also, der Titel war futsch und somit fiel die groß geplante Party für Franz Beckenbauers 100. Länderspiel fast gänzlich aus. Diese sollte natürlich mit dem Titel gemeinsam gefeiert werden, doch daraus wurde nichts.

Woran hat es gelegen? Die Flohe-Frage folgt sofort

Im Nachgang kommt immer Frage, woran es gelegen hat und so war es auch damals schon. In erster Linie lag es natürlich an einem würdigen Gegner und damit auch dem verdienten Europameister aus Ost-Europa. Die Tschechoslowakei hatte nach furiosem Start den Sieg und auch den Titel durchaus verdient, auch wenn ein Elfmeterschießen immer ein Stück weit Lotterie ist. Mit tollen Spielern, listigen Momenten und schlichtweg guten Leistungen war es den acht Slowaken und drei Tschechen zu gönnen, sich mit dem Titel zu krönen. Im deutschen Umfeld wurde naturgemäß die Aufstellung diskutiert. Helmut Schön wurde die Flohe-Frage direkt nach dem Spiel gestellt und er ließ ARD-Reporter Rudi Michel wissen: „Ja, man hätte es anders machen können. Aber es war schon gut, denn: Die Leistung, die Flohe in der zweiten Halbzeit gebracht hatte, die hätte er sicher nicht das ganze Spiel bringen können.“

Weiter argumentierte Schön, das Wimmer, der als Konditionswunder galt, seinen Gegenspieler quasi für Flohe „müde“ gespielt habe. Dies sei insgesamt also nicht ausschlaggebend für das Spiel gewesen. Dem könnte man entgegenhalten, dass es dann vielleicht nicht bereits 0:2 gestanden hätte, aber dies ist in der Tat müßig. Dennoch darf man im Nachgang Schöns immer wieder durchscheinenden Zweifel an Spielern des 1. FC Köln thematisieren. Bis auf Wolfgang Overath und mit Abstrichen auch Wolfgang Weber hatten fast alle FC-Nationalspielerkandidaten zum Zeitpunkt der Schön-Ära ihre Probleme mit dem Sachsen. Der langjährige FC-Verteidiger Harald Konopka hatte es im Double-Film auch vor der Kamera bestätigt („Wir Kölner hatten bei Schön generell einen schweren Stand.“).

Helmut Schön und FC-Spieler – Was war da?

Woran das lag, weiß man bis heute nicht genau. Es gibt viele FC-Fans, die sagen, dass Schön die Kölner Spieler nicht leiden konnte. Aber weder ist eine Antipathie erwiesen, noch wäre sie für einen Bundestrainer sinnvoll. Dass er es mit Heinz Flohe nicht so gut konnte, fiel allerdings auf, obgleich er um das überragende Talent des Technikers wusste. Es blieb rätselhaft, warum er ihm dennoch nicht recht traute. Oftmals lag der Vorwurf Schöns im Raum, das Flohe sich die Kraft nicht gut genug einteilte. Doch das hätte er auch über viele andere Spieler sagen können, die dennoch ihre Chancen immer wieder bekamen. Der bereits thematisierte und von Schön initiierte Krach aus dem England Spiel Anfang 1975 hatte sicher dazu geführt, das sich das schwierige Verhältnis der beiden weiter verkomplizierte. Aber es blieb ja nicht bei Flohe, ob sie nun Cullmann, Dieter Müller, Harald Konopka oder Herbert Neumann hießen.  Sie alle hatten es schwer, bei Schön längerfristig zu landen.

Bildnummer: 07720758 Datum: 30.04.1977 Copyright: imago/Ferdi Hartung Belgrad - Länderspiel - Jugoslawien - BR Deutschland 1:2 - Bundestrainer Helmut Schön (re.) und Heinz Flohe (beide BRD) enttäuscht; 3112a Fussball Herren Länderspiele Nationalteam Länderspiel Vneg Vsw xsp 1977 quer Trainer, Nationaltrainer Aktion Image number 07720758 date 30 04 1977 Copyright imago Ferdi Hartung Belgrade international match Yugoslavia BR Germany 1 2 German coach Helmut Beautiful right and Heinz Flohe both Germany disappointed Football men Internationals National team international match Vneg Vsw 1977 horizontal team manager National coach Action shot

Foto: imago images / Ferdi Hartung

Der einfachste Grund könnte natürlich darin liegen, dass andere eben ein Stück besser in Schöns Planungen passten oder tatsächlich eben leistungstechnisch noch ein Stück höher anzusiedeln waren. Es wird aber auch darüber spekuliert, dass der konfliktscheue Schön es sich in Zeiten der übergroßen Auswahl an Klassespielern in den 70er Jahren, gerne leichter machte … und eben die Blockbildung aus den erfolgreichen Teams aus München und Mönchengladbach bevorzugte. Nur so kam wohl ein Spieler wie Schwarzenbeck (der Putzer des Kaisers) in die Nationalelf. Nur so hatte ein Dietmar Danner, Zuarbeiter eines Rainer Bonhof, bei der EM 76 Zugang zur deutschen Auswahl. Diese beiden Namen sind nur Beispiele für so manchen Wunschspieler diverser Stars, die die Eingespieltheit mit ihren Vereinskollegen beim Trainer herausstellten und dabei auf offene Ohren stießen. Ob Schwarzenbeck oder Danner, um bei den Beispielen zu bleiben, auch beim Nationalteam gelandet wären, wenn sie beim MSV Duisburg oder Werder Bremen gespielt hätten, darf bezweifelt werden.

Luxusproblem der frühen und mittleren 70er Jahre

Um es klar zu sagen, dieses „Problem“ war ein Luxusproblem des deutschen Fußballs in den frühen und mittleren 70er Jahren. Es war auch nicht nur der 1. FC Köln mit seinen Spielern, der darunter zu leiden hatte. Auch andere Topleute vom HSV, Schalke, Eintracht Frankfurt oder dem BVB hatten es schwer, ihre wirklich herausragenden Spieler permanent in der Nationalmannschaft spielen zu sehen. Viele prominente Namen könnte nun aufgezählt werden. Da die Nationalmannschaft aber Titel gewann, hatte Schön letztlich immer Recht behalten. Daher wird Helmut Schön auch mit Recht als einer der größten und erfolgreichsten Trainer Deutschlands angesehen. Ob es im Kampf um die Plätze aber immer fair und streng nach Leistung ging, darüber diskutieren die Fußballfans bis heute.

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Die EM 1976 bleibt jedenfalls als das Turnier in Erinnerung, welches zwei FC-Stars prägend mit gestalteten und sogar dominierten. Dieter Müller wurde am Ende mit seinen vier Treffern EM-Torschützenkönig und Heinz Flohe war zweimal spielgestaltend und entscheidend daran beteiligt, Rückstände aufzuholen. Er erzielte einen Treffer aus dem Spiel und verwandelte seinen Elfmeter in der Nacht von Belgrad bombensicher. Dies alles als „Nothelfer“ nach ersten Halbzeiten auf der Bank. Dass „der Schuss in den Nachthimmel von Belgrad“ die einzige kollektive Erinnerung zu sein scheint, wird weder den beiden Kölnern noch der ganzen Mannschaft gerecht. Man sollte es an dieser Stelle einmal sagen: Es war seitens der DFB-Elf – trotz der Niederlage im Endspiel – eines der größten und besten Turniere der Geschichte. Dies alles mit ganz entscheidender Beteiligung von Spielern des 1. FC Köln. Daran sollte man sich bei der Rückbesinnung auf die Europameisterschaft im Jahr 1976 viel mehr erinnern, als an einen schlecht geschossenen Elfmeter.

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