Roger Willemsen hat ein Buch geschrieben, das Momentum heißt. Darin beschreibt er einzelne Fetzen der Erinnerung, die letztlich den Blick in den persönlichen Lebensrückspiegel darstellen und in der Gesamtbetrachtung ein rundes Bild ergeben. Manche Situationsflitzer schaffen es in den eigenen Rückblick. Andere nicht. Sehr selektiv das Ganze. Und man fragt sich, wieso man sich an eben diese eine Situation erinnern kann und an eine andere, vielleicht sogar viel entscheidendere, aber leider überhaupt nicht.
Am besten erinnert man sich ja noch mit der Nase. Begegnet man in der Straßenbahn einem Duft, der einen an die erste Schwärmerei erinnert, ist sofort alles wieder da: Verliebt sein, Kino, Kuss, Vorbei. Die Nase ist extrem erinnerungsstark. Ein Geruch ruft unfassbar weit zurückliegende Erinnerungen wach. Universen zurück. Fast nie gewesen. Solche, die man sonst nur mit Hypnosen reaktivieren kann.
Es gibt Momente, die sich in das Hirn eingebrannt haben. Als Kind das Eis, das auf den Asphalt klatscht und worüber man weint, als Jugendlicher der Kratzer auf der Hülle der CD, mit der Du Dein Selbstbewusstsein pushen/wahlweise in der Melancholie baden wolltest, nachdem mit Dir Schluss gemacht wurde. An den Kratzer erinnerst Du Dich. An die Dame, die Schluss gemacht hat, dann nicht. Komisch ist das, was das Hirn mit uns macht.
Was den effzeh betrifft, habe ich auch manche Fetzen, die sich in mein Hirn gebrannt haben, bei denen ich aber nicht genau weiß, wieso sie dort sind. Andere sind nur ganz beamtenmäßig im Denkapparat abgelegt: Zum Beispiel erinnere ich mich an den ersten Abstieg, um einmal ein traumatisches Erlebnis anzuführen, nur ganz sachlich. Ich weiß, dass ich da stand, im Müngerdorfer Stadion, und geweint habe. Aber ich fühle es nicht mehr. Ich weiß nicht mehr, was um mich herum gewesen ist, was ich an hatte. Wohin ich geguckt habe. Ich habe es vielleicht verdrängt, ich weiß es nicht.
Auf der anderen Seite gibt es solche Momente, an die ich mich sehr gut erinnere. Die plastisch sind. Die ich immer noch fühle. Die eigentlich ganz nichtig waren. Die ich aber irgendwie nicht vergessen kann. Wieso auch immer. Das Hirn ist ein Scherzkeks. Generell ist es ja, vereinfacht gesprochen, so, dass die Momente es in den Lebensrückblick schaffen, die den Sprung vom Kurz- ins Langzeitgedächtnis gewagt haben. Nur den kühnen Momenten gelingt das also.
Ich möchte Euch nun von einer Szene erzählen, die sich – wieso auch immer – in mein Hirn gefressen hat und die heute eine Bewandtnis hat, wie es selbst niemals geglaubt hätte.
Es war der 29.08.1991. Die Sommerferien waren spät in diesem Jahr. Wir waren gerade auf dem Weg von unserem Jugoslawienurlaub nach Hause. Mit dem Auto. Ich war 13, das Internet noch fern, also kaufte mein Vater an einer Raststätte einen kicker, nachdem wir die Grenze nach Deutschland passiert hatten. Ich saß hinten, aus der Vogelperspektive betrachtet links, also hinter meinem Vater. Ich hatte eine kurze Hose an, es war heiß. Ich trank aus dem kühlen Mineralwasser, das wir uns ebenfalls an der Tankstelle besorgt hatten und blätterte hektisch durch den kicker. Es hatte etwas von einem Junkie, der erstmals nach dreiwöchiger Pause (so lange waren wir an unserem Urlaubsort von der kölschen Welt abgeschlossen) eine Nadel in der Hand hält. Endlich kicker, endlich wissen, was passiert. Der effzeh hatte am Abend zuvor, in einer englischen Woche, in Nürnberg mit 4:0 verloren. Ich kann noch die einzelnen Zeilen riechen, die ich da las. Unser Auto hatte keine Klimaanlage, also hatten das kühle Wasser, das ich zuvor getrunken und der Spielbericht, den ich soeben gelesen hatte, dazu beigetragen, dass mir nun doppelt heiß war. Ich kurbelte das Fenster runter. Blickte raus. Flirrende Bäume fixieren. Das Heft in meiner Hand flatterte dabei im Wind. Hektisches Flattern. Ich guckte raus, wir waren in Bayern, und dachte: Das war es dann wohl mit dem Erich. Rutemöller war bis dahin unser Trainer. Ich mochte ihn, wir hatten kurz zuvor knapp das DFB-Pokalfinale verloren, es sollte doch eigentlich alles besser werden. Wir hatten den Bodo, den Litti, den Mucki.
Doch dann: 4:0 gegen Nürnberg. Ich muss es heute nicht nachschlagen. Ich weiß, dass wir 4:0 verloren haben. Weil ich den kicker las und dachte: Ach Du Scheiße.
Der effzeh hatte zuvor die ersten fünf Spieltage Unentschieden gespielt, das hatte ich mitgekriegt. Dann war Rutemöller weg, und ich dachte: Die Welt ist zu Ende. Der effzeh muss in einer Hardcore-Krise stecken, alles ist vorbei.
Kurzer Cut. Heute ist es so, dass der effzeh erneut mit drei Unentschieden in die Saison gestartet ist. Die Frage ist: Was wird sich später in die Hirne brennen? Diese drei Unentschieden oder das Gesamtergebnis? Wann wissen wir, dass ein Ergebnis relevant ist? Dass ein Resultat den weiteren Verlauf einer Saison bestimmt? Antwort: Nach der Spielzeit.
Relevanz ist manchmal sekundenabhängig. Ist ein Ergebnis so aus gegangen, fanden wir es später relevant, weil entscheidend, ist es eine Sekunde später so ausgegangen, war es nur eine Randnotiz. Ein Momentum wird es dann, wenn wir etwas damit verbinden.
Werden wir nach der Saison, oder vielleicht in drei Jahren sagen: Weißt Du noch, damals, war das eine Kacke, als wir die ersten drei Spiele unentschieden gespielt haben? Oder werden wir uns überhaupt noch daran erinnern, in vier, fünf oder sechs Jahren? Oder werden wir uns an das Ergebnis erinnern? An das, was aus der Saison geworden ist?
Ob das Resultat der Saison einen Platz in meinem Langzeitgedächtnis findet, hängt von den Spielern ab. Ob ich später einmal meinen (Enkel-)Kindern von dieser Spielzeit berichten werde, hängt von den Füßen der Jungen Thiel, Halfar und Risse ab. Ob ich mich an diese drei Unentschieden erinnern werde, nicht.
Übrigens: Die Saison damals, als der effzeh mit fünf Unentschieden startete und dann 4:0 unterging, und man dachte, die Katastrophe stehe bevor, ich auch, und ich das las, damals, im Auto, als es so heiß war und meine Hose kurz, damals, da ging die Saison so aus, dass wir am Ende in den Uefa-Cup kamen, als Tabellenvierter. Noch so ein Moment, an den ich mich ganz nah erinnern kann. Ich kann die Situation noch riechen, als Jörg Berger über den Platz getragen wurde, damals in Dresden, nach dem letzten Spiel. Einer dieser Momente.
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