Was wir als Gesellschaft aber nicht aushalten müssen, ist offener Rassismus, wie er in den letzten Wochen in manchen Medien und von so manchem Vertreter des öffentlichen Lebens vorgetragen wurde. Nein, dieser Vorwurf ist nicht konstruiert. Er ist leider so zutreffend, wie die viel zu guten Wahlergebnisse der AfD mittlerweile Realität sind.
Denn wenn Miroslav Klose für uns ein guter Deutscher, Özil aber auf ewig der “Deutsch-Türke” ist, wenn Lothar Matthäus von DFB und Presse größtenteils für sein Treffen mit Wladimir Putin verschont wird und die Geschäfte des Verbands mit der auf Menschenrechte scheißenden Volksrepublik China uns ebenso egal sind wie die Katar-Werbung auf dem Ärmel des FC Bayern München oder Wahlkampftermine der Bayern-Profis mit dem bayrischen Ministerpräsidenten Markus Söder, während wir bei Özil und Erdogan einen Riesenwirbel veranstalten, Erklärungen fordern und Leute rauswerfen wollen, dann ist das keine Debatte über Werte, sondern blanker Rassismus.
Politischer Schwachsinn ist okay – nur bei Özil nicht?
Denn dann gestehen wir allen Protagonisten mehr politischen Schwachsinn zu als einem in Gelsenkirchen geborenen Fußballer, der aufgrund seines familiären Hintergrunds mehr unter Druck stehen dürfte als alle oben genannten zusammen – die Herkunft wird zur Triebfeder der Kritik. Was außer Rassismus soll das sein?
Mesut Özil hat genauso ein Recht darauf, Dummes zu tun, wie Lothar Matthäus. Damit müssen wir leben, das müssen wir aushalten können. Oder eben die Konsequenzen ziehen und die DFB-Verträge mit China auflösen, die Teilnahme an der WM in Katar 2022 absagen und den Ehrenspielführer der Nationalmannschaft wegen seiner Putin-Propaganda und den DFB-Präsidenten wegen seiner politischen Gesinnung rauswerfen. Solange wir das aber nicht tun, ist es mitnichten ein konsequenter Kampf für die freiheitlichen Werte unseres Landes oder unserer Fußballkultur, nun Özil an die Wand zu nageln. Sondern nur eine niederträchtige Kampagne gegen eine Person, die weder die Ausbildung noch die Kompetenz mitbringt, in einer politischen Debatte als ernsthafter Akteur aufzutreten. Und zudem ist es ein ekelhaftes Kuscheln mit Hetzern am rechten Rand.
Özil kann falsch liegen und gleichzeitig recht haben
Wenn nun so mancher Journalist, ob in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung oder der BILD sich nach diesen Statements dazu entscheidet, lieber Özils Haltung zu Erdogan negativ zu kommentieren, statt den 29-Jährigen gegen den offenen Rassismus zu verteidigen, dann machen auch diese Autoren bei dieser widerwärtigen Kampagne mit – und lassen weder Qualität noch Anstand dabei durchscheinen.
Denn darüber, dass der Auftritt mit Erdogan für den Arsch war, herrscht ohnehin schon seit Wochen Einigkeit. Diesen Aspekt weiterhin als Quintessenz, und den Rassismus maximal als Folge dessen zu benennen oder wie BILD gleich gänzlich zu negieren, sagt nichts anderes aus, als dass der “Deutsch-Türke” einfach hätte brav sein können, dann müsste er nun auch nicht wegen angeblichen Rassismus rumheulen. Mehr nicht. Zudem ist es eine unzulässige Verbindung zweier eigenständiger Themen. Denn nur weil Özil in Sachen Erdogan daneben liegt, heißt das eben nicht, dass er mit seiner Abrechnung unrecht hat.
Wir müssen uns dringend hinterfragen
Wir als Gesellschaft müssen uns deshalb hinterfragen. Wir müssen uns fragen, wie es passieren konnte, dass ein Spieler wegen Rassismus nicht mehr für Deutschland spielen will. Diese Frage ist dringlicher, sie ist wichtiger und für unser Land, nicht nur für unsere Fußballkultur, von zentraler Bedeutung.
III / III pic.twitter.com/c8aTzYOhWU
— Mesut Özil (@MesutOzil1088) July 22, 2018
Denn Özil ist nicht nur irgendein Nationalspieler. Özil ist ein Symbol für sehr viele Bürger mit Migrationshintergrund in diesem Land, deren Vertrauen wir als Gesellschaft zu verlieren drohen. Eine Gruppe, die sich in ihrem ohnehin stets vorhandenen Gefühl nun bestätigt sieht: Wenn wir nicht immer brav machen, was von uns verlangt wird, sind wir ganz schnell keine Deutschen mehr. Sondern wieder die “Türken” oder die “Gastarbeiter”. Das “Deutschsein” einer ganzen Bevölkerungsgruppe wird in dieser Debatte in Frage gestellt und ein Gefühl der Unzugehörigkeit verstärkt und befeuert. Dieses Fiasko dürfte Konsequenzen haben, die weit über den Fußballkosmos hinausgehen.
Özil ist mehr als nur irgendein Fußballer
Matthäus und Grindel würde derweil natürlich keiner das “Deutschsein” absprechen, obwohl sie sich gerne mit ähnlich widerwärtigen Personen abgeben wie Erdogan. Ihre Einstellung zur Demokratie und zu freiheitlichen Werten wurde deshalb nie in Abrede gestellt – schon gar nicht öffentlich über Wochen hinweg. Abschieben will sie auch niemand, vom Verband bloßgestellt und von der Presse wochenlang zum Sündenbock gemacht, wurden sie ebenfalls nicht.
Und genau deshalb hat Özil mit seinen Vorwürfen vollkommen recht, obwohl er mit seiner Einschätzung zu Erdogan daneben liegt. Wer das heute anders sieht und sich nach Özils Vorstoß weiterhin vor allem an “Erdogate” aufhängt, statt das größere Problem zu benennen und zu thematisieren, macht sich daher nur zum Steigbügelhalter der Rassisten. Mehr nicht.