Das Märchen vom unpolitischen Sport, es ist längst auserzählt. Unpolitisch, das war der Sport nie gewesen, ist er derzeit nicht und wird er auch in nächster Zukunft nicht werden. Die Organisationsform des Sports ist inhärent politisch, Funktionäre und Sportler agieren jeweils nicht im luftleeren Raum. Dass sich das Bewusstsein über diese Tatsache auch aktuell in den Nachrichten widerspiegelt, sollte daher nicht verwundern. Ob die Proteste von belarusischen Spitzensportlern gegen das herrschende Lukashenka-Regime, das unter anderem im kommenden Jahr die Eishockey-WM austragen soll, das unter großem Aufschrei vieler Athleten vollstreckte Todesurteil gegen den iranischen Ringer Navid Afkari oder das beredte Schweigen des organisierten Sports über das Vorgehen der chinesischen Regierung gegen das Volk der Uiguren: Frei nach Watzlawick kann auch im Sport niemand nicht politisch sein.
Dass die gesellschaftspolitische Bedeutung des Sports sich auch im Fußball wiederfindet, sollte daher nicht überraschen. Die wohl beliebteste Sportart der Welt spielt in Innen- wie auch Außenpolitik vieler Staaten eine wichtige, wenn nicht gar entscheidende Rolle. Fußball ist Motor für Veränderung in Gesellschaften, Werkzeug zur Unterdrückung und Herrschaftswahrung, Plattform für Protest und Propaganda. Davon erzählt der preisgekrönte Sportjournalist Ronny Blaschke in seinem Buch „Machtspieler. Fußball in Propaganda, Krieg und Revolution“, für das er auf vier Kontinenten recherchierte. In 13 Kapiteln, die sich alle einem anderen Schwerpunktthema widmen, blickt er durch den Fußball hindurch auf gesellschaftliche, kulturelle und religiöse Eigenarten, Entwicklungen und Einflüsse, die das schönste Spiel der Welt in verschiedensten Regionen der Welt prägen. Manchmal sind es ganz offensichtliche Themen, die im wahrsten Sinne des Wortes auf der Straße liegen, manchmal ist es ein Blick hinter die Kulissen des Hochglanzprodukts, zu dem der Fußball vielerorts geworden ist.
Keine Reisereportagen, sondern nüchterne Hintergrundberichte
Es geht in „Machtspieler“ um die Bemühungen zahlreicher Staaten wie Katar, durch den Sport an internationaler Bedeutung zu gewinnen und wirtschaftliche Beziehungen zu verstärken. Es geht um Kriegsschauplätze wie Syrien oder Ruanda, in denen der Fußball positiv wie negativ eine entscheidende Rolle im Zusammenleben der leidgeplagten Gesellschaften spielt. Es geht um Konflikte zwischen organisierten Fans und staatlichen Institutionen, es geht um die Rolle der Anhänger, die über ihre Anliegen hinaus sogar bereit sind, in den Krieg zu ziehen, es geht um die Bedeutung des Fußballs für die regionale und nationale Identifikation, für Unabhängigkeit, Umsturz und Unterscheidung. So vielfältig der Sport, so vielfältig sind auch die Interessen, die auf verschiedensten Ebenen auf ihn einwirken: Diese Fronten, zwischen die der Fußball immer wieder im Zusammenspiel von Politik, Protest und Religion gerät, darzustellen gelingt Blaschke auf 240 Seiten eindrucksvoll und eindringlich.
Das liegt vor allem daran, dass der Sportjournalist keine atmosphärisch dichten Reisereportagen abliefert, sondern sich auf die Hintergrundinformationen zu den Konfliktlinien konzentriert. Daher sind es weniger Blaschkes subjektiv gefärbte Eindrücke, die das Buch prägen, sondern die Einschätzung von herangezogenen Experten. Angereichert wird dies durch soziokulturelle und historische Hintergründe, die die Einschätzung der Lage bei den entsprechenden Themen erleichtern. So setzt sich im Kopf des Lesers ein Bild zusammen, das zum Glück nicht frei von Widersprüchen ist, sich dementsprechend dem oft im Fußball präsentierten Schwarz-Weiß-Denken entzieht. Dass Blaschkes Buch keine Wohlfuhllektüre ist, macht der Autor bereits in der Einleitung deutlich. Mit scharfen, weil wahren Worten wird auch die Verwicklung des deutschen Fußballs (und dadurch auch indirekt dessen Fans) in das Machtgefüge des internationalen Sports angerissen.
Ein beeindruckendes und bedrückendes Buch über Fußball und Politik
In den 13 Kapiteln, für die Blaschke knapp zwei Jahren auch recherchiert hat, bleibt dies dann aber zunehmend außen vor. Im Fokus steht die Situation vor Ort, die auch Konsequenzen außerhalb der eigentlichen Region hat, wie das Beispiel des chinesischen Aufbruchs zur Fußball-Weltmacht oder dem katarischen Streben nach Einfluss zeigt. Diese Fragmentierung der einzelnen, mitunter stark voneinander abgegrenzten Themenbereichen ist Stärke und Schwäche von „Machtspieler“ zugleich. Es gelingt Blaschke durch den Blick auf viele verschiedene Gebiete, den Leser auf eine sportpolitische Reise um die Welt mitzunehmen. Hierbei bleibt er keinesfalls oberflächlich, sondern nutzt die Abwesenheit von „Anekdoten, die den Autor im rostigen Taxi, auf staubigen Ascheplätzen, in verrauchten Ultrakneipen oder Luxusbüros katarischer Funktionäre zeigen“ zur nüchternen und faktenorientierten Betrachtung der Geschehnisse. Dennoch hinterlässt die Lektüre zwischendurch oft den Eindruck, dieses Thema noch genauer, noch intensiver, noch tiefergehender betrachten zu wollen. Was dank eines Quellenapparats am Ende des Buches im Übrigen leicht ermöglicht wird.
So bleibt „Machtspieler“ ein beeindruckendes und bedrückendes Buch über die Macht des Fußballs. Eine Macht, die positiv genutzt werden kann. Eine Macht, die allerdings auch in zahlreichen Bereichen negativ wirkt. Die enge Verbindung zwischen Fußball und Politik, immer wieder gern beiseite geschoben, sie ist selten so präsent wie auf diesen stark recherchierten und verständlich erzählten 240 Seiten. Das Märchen vom unpolitischen Sport – es ist wahrlich auserzählt. Dafür spricht Blaschkes Werk beispielhaft. Dafür spricht das antirassistische Engagement vieler Sportler in diesem Jahr. Dafür spricht die sozialen Aktivitäten eines Marcus Rashford, der sich im Kampf für die Versorgung benachteiligter Kinder zum wichtigen politischen Akteur entwickelt hat. Dafür sprechen auch zahlreiche politische Äußerungen wichtiger Sportler, die längst mehr sein wollen als nur gut vermarktbare Schaufensterpuppen. Es ist auch in Deutschland an der Zeit, die gesellschaftspolitische Bedeutung des Sports im Allgemeinen und des Fußballs im Speziellen endlich zu verinnerlichen.
Ronny Blaschke: Machtspieler. Fußball in Propaganda, Krieg und Revolution. Die Werkstatt Verlag, Göttingen 2020. ISBN 9783730704950. Kartoniert, 240 Seiten, 19,90 Euro.