Unser Autor war eigentlich für die Einführung des Video-Schiedsrichters. Doch nach ein paar Wochen mit dem neuen System versteht er die Welt nicht mehr.
Es ist so einfach. Elf gegen elf, 90 Minuten. Wer mehr Tore erzielt, gewinnt das Spiel. Fußball. So schwer kann das doch nicht sein. Gut, es gibt da ein paar Regeln. Es gibt Fouls, die Spieler begehen können, wenn einer dem Anderen ein Bein stellt zum Beispiel. Und da ist die Abseitsregel, zwei Verteidiger müssen im Moment der Ballabgabe des Offensivspieles näher zum Tor stehen als der passempfangende Angreifer. Und wenn der Ball ins Tor fliegt, dann muss er in vollem Umfang die Linie überqueren, nur dann ist es ein Tor. Eigentlich klingt das alles viel komplizierter, als es in Wirklichkeit ist. Doch seit dieser Saison ist alles anders. Bundesliga-Fußball ist so kompliziert wie nie zuvor.
Schuld ist die Einführung des Videobeweises, mögen manche jetzt meinen. Plötzlich werden getroffene Entscheidungen minutenlang diskutiert, noch einmal überdacht und dann eventuell wieder verworfen. Doch die Einführung des VAR an sich ist nicht Schuld an zahllosen Fragezeichen in meinem Kopf, wenn ich momentan ein Bundesligaspiel verfolge. Schuld daran sind die völlig unterschiedlichen Auslegungen einer Situation.
Wann ist es wirklich Foul?
Die Schiedsrichter, ob sie nun auf dem Feld stehen oder in Köln im Raum des Videoschiedsrichters sitzen, scheinen sich nicht einig zu sein. Wann ist es eigentlich nochmal Hand? Wann ist es wirklich Foul? Wann ist es auch ein Foul, das einen Elfmeterpfiff rechtfertigt? Diesen Unterschied habe ich noch nie verstanden und er führt immer zu einer Verwässerung der eigentlich klaren Regeln. Auslegungssache, heißt es dann gerne. Ein Kann-Elfmeter. Was soll das sein?
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Erster Spieltag, Bayern München und ein Verein mit einem Hotel an der Autobahn als Heimspielstätte eröffnen die Saison. Bitte, liebe Schiedsrichter, bitte bitte, liebe Assistenten, Video-Schiedsrichter, Obmänner und Regelhüter, bitte schaut euch die 52. Minute des ersten Saisonspiels nochmal an. “Der Videobeweis kommt zum Einsatz”, so steht es in den Tickern nach dem Spiel. Robert Lewandowski war im Strafraum zu Boden gegangen. Der Schiedsrichter Tobias Stieler hatte eben nicht auf Elfmeter entschieden. Der Videoschiedsrichter meldete sich. Er hatte den Griff von Aranguiz an Lewandowskis Trikot gesehen. Die Entscheidung des Referees wurde überstimmt, Gelb für Aranguiz, Elfmeter für Bayern München.
Wenn ich mir die Szene noch einmal anschaue, habe ich ganz gegensätzliche Gedanken. Erstens, tolle Sache, dieser Videobeweis. Ein Foul im Strafraum ist dem Unparteiischen entgangen, der VAR greift ein und korrigiert diese Fehlentscheidung. Doch mittlerweile ist die Saison älter und es gab weitere Entscheidungen und vor allem Nicht-Entscheidungen. Und schon habe ich nur noch Fragezeichen im Kopf. Denn Aranguiz greift zwar eindeutig an die Schulter von Lewandowski und zieht diese nach hinten. Aber jetzt kommt ein Aber. Denn wie stark zieht er eigentlich? Und lässt sich der Bayern-Stürmer nicht bereitwillig fallen, im Wissen um die technischen Neuerungen? Er fordert sofort einen Elfmeter und bekommt ihn nachträglich dann auch.
Wann wird eingegriffen und wann nicht?
Eines ist ganz klar: Ich tendiere dazu, dass es ein Elfmeter war. Aber: wie kann sich der Videoschiedsrichter im hunderte Kilometer entfernten Köln sicher sein, wie stark Aranguiz am Körper seines Gegners zieht? Kann er wirklich sicher sein, dass Lewandowski nicht schon beim leichtesten Kontakt zu Boden geht? Denn nur dann darf er, der VAR, der neu eingeführte Videoschiedsrichter, eingreifen. Die Entscheidung auf dem Feld (kein Elfmeter) überstimmen.
Nehmen wir mal an, die Schiedsrichter haben sich vor dieser wichtigen ersten Spielzeit des Videobeweises vorgenommen ganz besonders konsequent zu sein. Vielleicht auch, um zum Beispiel auch Diskussionen um Kann-Elfmeter gar nicht erst aufkommen zu lassen. Foul ist Foul. Und wenn Aranguiz so dumm ist und im Strafraum an die Schulter seines Gegenspielers greift, dann ist das regelwidrig und folgerichtig mit Strafstoß zu ahnden. Ich mag diese Annahme. Fußball wäre ein Stück weit gerechter. Es würde weniger spielentscheidende Fehlentscheidungen geben. Der Videobeweis hätte seinen Sinn und Zweck erfüllt.
Kommen wir nun zum 1.FC Köln. Die Saison ist weiter vorangeschritten und der effzeh macht viele Fehler und verliert deshalb Spiel um Spiel. Der Videobeweis spielt dabei insgesamt eine untergeordnete Rolle. Und doch lassen mich die vermeintlich neuen Regeln immer ratloser zurück.
Ich verstehe es nicht!
Leonardo Bittencourt läuft im Strafraum von Eintracht Frankfurt umher. Bittencourt, ein flinker Spieler, meistens kleiner, schwächer, schmächtiger als seine Gegenspieler, aber eben schneller, wendiger, geschickter. Den Ball hat Bittencourt nicht, da wird er plötzlich von hinten über den Haufen gerannt. Der Schiedsrichter sieht diese Szene nicht. Der Videoschiedsrichter greift nicht ein. Warum? Die Begründung ist leicht. Er war sich nicht sicher. Denn, wie gesagt, er darf ja nur eingreifen, wenn er sich wirklich sicher ist. Immerhin geht es hier ja um Elfmeter. Ein Foul im gegnerischen Strafraum? Da muss es doch bitte ein wenig mehr sein. Glasklar muss es sein.
Ich verstehe es nicht. Vergleicht man die beiden Szenen von Lewandowski und Bittencourt, kann ich nicht sagen, weshalb sich der Videoschiedsrichter A sicher sein kann, dass Aranguiz mit einem leichten Griff seinen größeren Gegenspieler Lewandowski scheinbar umreißt und wie Videoschiedsrichter B eben nicht sicher sein kann, dass der viel größere Gegenspieler Bittencourt einfach in den Rücken springt. Also viel klarer Elfmeter, das geht gar nicht. Oder die Regel macht keinen Sinn. Oder der VAR hat nicht aufgepasst.
Oder, und das halte ich für die wahre Variante, VAR A und VAR B legen unterschiedliche Maßstäbe an bei der Bewertung ihrer jeweiligen Szenen. Und damit bliebe die Bundesliga und Entscheidungen über spielentscheidende Situationen wie je zuvor. Subjektiv. Nicht ganz fair. Weil immer ein anderes Maß angelegt wird. Ist halt so. Ob mit VAR oder ohne. Mal davon abgesehen, dass Bayern das Spiel auch ohne die korrigierte Entscheidung gewonnen und der effzeh das Spiel auch mit korrigierter Entscheidung eventuell verloren hätte.
VARum, lan?
Es läuft die 88. Minute beim Spiel VfB Stuttgart gegen den 1. FC Köln. Schiedsrichter Benjamin Cortus steht gut, er blickt nach vorne direkt ins Geschehen. Der 1. FC Köln hat soeben den Ball in den Strafraum des Gegners gespielt, Stürmer Sehrou Guirassy ist zu Boden gegangen. Gab es da einen Kontakt? Schiedsrichter Cortus zögert einen winzigen Moment. Es ist so verdammt schwer in Sekunden zu entscheiden, ob er es richtig gesehen hat, es hat einen Kontakt gegeben, da ist er sich sicher. Aber ausreichend für den wahrscheinlich spielentscheidenden Pfiff? Ausreichend für einen Elfmeter? Cortus pfeift und zeigt auf den Punkt. Aber so ganz sicher ist er sich bei seiner Entscheidung nicht. Hätte er doch lieber die Pfeife stumm gelassen. Kein Pfiff und der metaphorische Ball hätte im Feld des Videokollegen im Studio gelegen. War da was? Etwas Glasklares? Muss ich eingreifen? Mit Sicherheit hätte es keinen Eingriff des VAR gegeben. Warum? Weil die Situation nicht eindeutig ist. Eher sogar ein Offensivfoul von Guirassy. Aber auch das kann man eigentlich nicht mit Sicherheit sagen. Denn da ist diese Berührung am Fuß.
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Doch Cortus hat gepfiffen. Er fordert Unterstützung an, schaut sich dann die Szene auch noch einmal selbst am Spielfeldrand an. Und kommt zu welchem Entschluss? Dass er sich nicht sicher ist. Resultat? Elfmeter.
Hätte ich jetzt gedacht. Immerhin hat er Elfmeter gepfiffen. Und er ist sich eben nicht sicher, dass seine Entscheidung falsch war. Denn sonst müsste es jetzt Freistoß für Stuttgart geben, Stürmerfoul. Doch Mist, so eindeutig zu sehen ist es auch in der dritten Wiederholung der vierten Einstellung nicht. Denn da ist ja diese verdammte Berührung, wegen der Cortus spontan auf den Punkt zeigte.
VAR-Einsatz regelkonform
Zwei Sätze zur Regelkunde. Wie Collinas Erben, die sich mit Regeln auskennen wie kein Zweiter, schreiben, ist es völlig regelkonform, dass der Videoschiedsrichter in Stuttgart zum Einsatz kam. Nicht weil der VAR sich sicher war eine klare Fehlentscheidung gesehen zu haben und eingriff, sondern weil Cortus selbst sich unsicher war, ob er denn da eben richtig entschieden hatte. Der Schiedsrichter bittet also um Hilfe.
Dabei kann er, auch das völlig regelkonform, auch selbst an die Seitenlinie eilen, um sich selbst ein neues Bild zu machen, die Situation ein weiteres Mal zu bewerten. Das soll dazu “hauptsächlich bei subjektiven Entscheidungen” passieren. Was ist das denn? Ach, die “Kann-Entscheidungen”, ja die liebe ich ja eh. Offensichtlich lag in Stuttgart also eine Kann-Entscheidung vor, eine Situation im Graubereich. Also lieber nochmal nachschauen. Gute Idee, würde ich meinen. Doch was, wenn es eben eine subjektive Entscheidung bleibt? Müsste dann nicht die Entscheidung auf dem Feld stehen bleiben? Die, die der erfahrene Schiedsrichter intuitiv getroffen hat? Bei der er sich jetzt nach Ansicht weiterer Einstellungen nicht mehr ganz sicher ist?
Leute, es bringt halt nichts. Ich schreibe mir hier die Finger wund, aber ich verstehe es nicht mehr. Ich weiß nicht mehr, wann Hand ist und wann nicht. Ich weiß nicht mehr, was ein Foul ist und was eigentlich doch eher nicht. Ich weiß nicht, wieso ein Foul im Strafraum härter und klarer sein muss, als ein Foul an der Eckfahne. Ich weiß nicht, warum Aranguiz Lewandowski nur antippen muss, damit der Videoschiedsrichter eingreift und warum andere Spieler weiter umgerannt werden dürfen. Ja, ich überspitze. Und ja, ich war vor der Saison FÜR den Videobeweis. Aber Leute, ich verstehe die Regeln dieses doch so einfachen Spiels nicht mehr. Und das ist doch Scheiße.