So sehr man sich auch bemühte Normalität an den Tag zu legen, so nervös war man im Kölner Lager trotzdem. Man reiste einen Tag vorher mit einer großen Delegation nach Hamburg, stieg im Crest-Hotel ab und harrte der Dinge. Das Unternehmen „Double-Gewinn“ nahm unausweichlich seinen höchst dramatischen Verlauf.
St. Pauli erwies sich tatsächlich als der um jeden Zentimeter kämpfende Gegner, der sich würdevoll aus der Bundesliga zu verabschieden gedachte. Die ersten beiden Torchancen lagen auf Seiten der Hamburger. Der Paulianer Blau setzte sich im Strafraum durch und prüfte Schumacher. Kurze Zeit später galt es einen Freistoß von Beverungen unschädlich zu machen, wieder war Schumacher zur Stelle.
Kämpferische Paulianer machen es dem Effzeh schwer
Zu diesem Zeitpunkt stand es in Düsseldorf beim Spiel Gladbach gegen Dortmund bereits 3:0 für Gladbach! Heynckes hatte gleich in der ersten Spielminute getroffen, in der 12. Minute nachgelegt und Nielsen in der 13. Minute das 3:0 erzielt. Blitzstart nennt man das.
Auf der Kölner Trainerbank bekam man die Entwicklungen per Radio mit. Die Spieler selbst wussten nichts, aber das Publikum sehr wohl. Der FC versuchte seine Nervosität, die auch ohne das Wissen um die Geschehnisse in Düsseldorf durchschimmerte, in den Griff zu bekommen. Der tiefe und mit vielen Unebenheiten übersäte Rasen des Volkspartstadions tat ein Übriges, um das normale Kombinationsspiel der Kölner zu behindern. Nach gut 20 Minuten Spieldauer fand man nach und nach über den Kampf ins Spiel, um eine typische, aber in diesem Falle richtige Fußballplattitüde zu benutzen.
Gladbach fast 30 Minuten virtueller Tabellenführer
Aus heutiger Sicht würde man die ersten 27 Minuten sicher noch intensiver als Sensation bewerten, schließlich spricht man üblicherweise von der virtuellen Tabellenführung, die für den Effzeh bereits seit 15:31 Uhr futsch war. Aber dann setzte sich Flohe im Pauli-Strafraum durch, vollendete einen Doppelpass mit Neumann mit einem gleichermaßen strammen wie holprigen Schuss ins St.-Pauli-Tor. Die erste Anspannung ließ auf Kölner Seite nach, man begann den Gegner zu kontrollieren.
Zu diesem Zeitpunkt hieß es in Düsseldorf bereits 4:0. Die verbleibende Viertelstunde bis zur Halbzeit sah eine zwar dominierende Kölner Mannschaft, aber keine, die weitere Treffer erzielte. Zur Pause stand es in Hamburg 1:0 für Köln und 6:0 für Gladbach. Wäre es da wie dort das Endergebnis gewesen, hätte Köln den Meistertitel gehabt und zwar mit fünf Toren Vorsprung im Torverhältnis.
Halbzeitgefühle bei Mannschaft und Fans
Im Kölner Lager war man zur Halbzeit über das, was in Düsseldorf geschah schwer verwundert, aber noch nicht extrem beunruhigt. Sechs Tore in einer Halbzeit fallen nicht so furchtbar oft und wer zur Halbzeit so derart klar zurück liegt, dem ist in der zweiten Halbzeit kein Aufbäumen zuzutrauen, eher der totale Zusammenbruch. Man dachte über dieses Horrorszenario trotzdem nicht weiter nach, aber im Hinterkopf zeichnete es sich ab, denn wenn Gladbach in diesem Tempo weitermachen würde, wäre das unmöglich Geglaubte Realität: Man hätte das Torverhältnis ausgeglichen und Gladbach wäre Deutscher Meister.
Um das zu verhindern, gab es nur eine Möglichkeit: selbst weiter Tore machen, aber bloß keinen Gegentreffer kassieren!
Der Halbzeitstand von Düsseldorf wurde im Stadion durchgegeben. Gab es beim neutralen Publikum und bei der Mehrzahl der St. Pauli-Anhänger noch eine gewisse Sympathie für den vermeintlichen Underdog Gladbach, so kippte jetzt die Stimmung. Irgendwie erschien das Düsseldorfer Halbzeitresultat irreal, merkwürdig und suspekt. Manch einen beschlich das Gefühl, dass da irgendwas nicht stimmen konnte. Die St. Pauli-Ultras schwenkten zuerst um, verbrüderten sich mit den Kölner Fans und begannen den FC anzufeuern. Später stand das ganze Stadion hinter dem FC.
Als die zweite Halbzeit begann, passierte zunächst nicht viel. Köln versuchte zwar nachzulegen, aber die Aktionen hatten keine Durchschlagskraft. In Düsseldorf ging das muntere Scheibenschießen unterdessen weiter. Heynkes hatte auf 7:0 erhöht. Erst eine Standardsituation brach in Hamburg den Bann. Flohe brachte in seiner unnachahmlichen Art von rechts eine Ecke auf die Höhe des 5-Meter-Raum, wo Okudera stand und mit dem Hinterkopf verlängerte. Das war eine von vielen Kölner Eckballvarianten, die oft genug zum Torerfolg führten. So auch jetzt! Von Okuderas Hinterkopf flog der Ball im hohen Bogen ins St. Pauli-Tor. 2:0 Köln! Eine Minute später stand es aber bereits 8:0 für Gladbach. Es lagen noch vier Tore zwischen beiden Teams.
Unruhe auf der Bank – Erlösung durch Flohe, Cullmann & Okudera
In dieser Phase des Fernduells machte sich wirklich so etwas wie Panik auf der Kölner Trainerbank breit. Das 9:0 durch Nielsen ließ auf einmal den für völlig unmöglich gehaltenen Fall X denkbar erscheinen. Weisweiler signalisierte, dass weiter Gas gegeben werden müsse. Assistent Herings ging an die Seitenlinie, gab die Order an die Spieler und traf teilweise auf völliges Unverständnis. Cullmann erklärte nachher: „Mir war nicht klar, wieso wir bei einem 2:0-Vorsprung unbedingt weiter nachlegen sollten“ und Konopka schwante Schlimmes: „Wir mussten doch auch aufpassen, dass wir uns von St. Pauli keinen einfingen“. Auch das lag immerhin im Bereich des Möglichen. Die Paulianer hatten sich weiterhin nicht aufgegeben, fighteten mit Inbrunst.
In der 69. Minute war es wieder Flohe, der durch eine Energieleistung den FC-Zug auf die richtige Schiene setzte. Sein 3:0 aus gut 20 Metern, ein gewaltiger, platzierter Fernschuss, brach die letzten Widerstände beim Gegner und flößte seinen Mannschaftskameraden Selbstbewusstsein für den Schlussspurt ein.
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