Es ist selten, dass es bei einer Mitgliederversammlung eines Vereins zu Jubelszenen kommt, wie es sie sonst nur bei einem wichtigen Treffer in der Nachspielzeit der Fall ist. Auch beim 1. FC Köln. Doch Mitte November 2010 schien bei den „Geißböcken“ alles einen unerwarteten Gang zu nehmen: Über 3.000 Mitglieder waren ins Staatenhaus der Messe gepilgert, um sich von Wolfgang Overath, Michael Meier und Co. erklären zu lassen, wie sie den Verein endlich aus der sportlichen Misere zu führen gedenken. Es entwickelte sich ein Abend, der in die Geschichte der „Geißböcke“ eingehen würde. Unter großen Jubelschreien wurde verkündet, was einmalig in der Vereinshistorie ist: Der Vorstand um Wolfgang Overath wurde von den Mitgliedern nicht entlastet.
Der vorläufige Höhepunkt turbulenter Tage rund um den 1. FC Köln: Der Geißbock-Club war nach einer deftigen 0:4-Derbyklatsche gegen Schlusslicht Borussia Mönchengladbach ans Tabellenende gerutscht, Lukas Podolski musste sich nach dem Abpfiff mutterseelenallein im Mittelkreis ausgerechnet von Gästecoach Michael Frontzeck trösten lassen. Geschäftsführer Michael Meier, der wenige Wochen zuvor Trainer Zvonimir Soldo vor die Tür gesetzt hatte, stand im Vereinsumfeld gewaltig in der Kritik. Sogar bei FC-Ikone und Präsident Wolfgang Overath, an dessen Amtsführung im Herbst 2010 zunehmend Anstoß genommen wurde, stand im Vorlauf der Mitgliederversammlung ein Rücktritt im Raum.
“Wir müssen mehr gewinnen” – ein Zehn-Punkte-Plan aus der Hölle
Wie angespannt die Lage beim FC war, wurde schon weit vor dem Start der Veranstaltung im Staatenhaus der Messe klar: An den Eingängen bildeten sich lange Schlangen, es musste angesichts der unerwarteten Menschenmenge zum Teil auf Nebenräume mit Videoübertragungen ausgewichen werden, die Mitgliederversammlung starteten ob des Andrangs dann auch mit 20-minütiger Verspätung. Die Stimmung in Deutz hatte nahezu Stadioncharakter: Enttäusche Anhänger bastelten aus der Tagesordnung „Meier raus“-Zeichen, nach dem Abspielen der Hymne kam es zu wütenden „Ihr macht den FC kaputt“-Gesängen, gefolgt von „Vorstand raus“-Rufen. Angespannte Atmosphäre auch unter den Mitgliedern, der Widerstand gegen den Weltmeister an der Spitze des Vereins schien angesichts der schwachen sportlichen und finanziellen Lage ungeahnte Ausmaße anzunehmen.
“Was wir abgeliefert haben – von der Mannschaft bis oben – war schlecht.”
Dass sich dieses Treffen der FC-Familie an diesem Abend nicht zum Besseren wendete, hatte sich die Vereinsführung allerdings auch selbst zuzuschreiben: Vizepräsident Friedrich Neukirch, der die Mitgliederversammlung erstmals leitete, setzte zum Beginn seiner Rede zum schwungvollen „Happy Birthday“-Gesang an und erntete ein gellendes Pfeifkonzert. Sein „Ich danke Ihnen für meine Ausführungen“ setzte den Abschluss einer grotesken Vorstellung, die danach noch unterboten werden sollte. In einer emotionalen, aber inhaltslosen Ansprache zeigte sich FC-Präsident Wolfgang Overath einmal mehr selbstkritisch, aber ohne Übernahme der Verantwortung. “Was wir abgeliefert haben – von der Mannschaft bis oben – war schlecht. Aber ich lasse den Verein nicht im Stich“, so der Weltmeister von 1974. Höhepunkt seines Auftritts: Ein Zehn-Punkte-Plan, der unter anderem die grandiose Konzeption „Wir müssen mehr Spiele gewinnen, am besten schon am Sonntag in Stuttgart“ enthielt.
Tumultartige Szenen im Staatenhaus der Kölner Messe
Es entwickelte sich ein größtenteils engagiert, aber recht niveaulos geführter Schlagabtausch zwischen den aufgebrachten Anhängern und einem FC-Vorstand, der so vorbereitet wirkte, als hätte ihnen um 17.30 Uhr jemand die Nachricht überbracht, dass in zwei Stunden eine wichtige Veranstaltung vor ihnen läge. „[S]tatt überzeugenden Lösungsvorschlägen gab es an Arroganz grenzende Auftritte, verbale Entgleisungen und Durchhalteparolen der FC-Verantwortlichen“, urteilte der „Spiegel“ nach der Veranstaltung über das mitunter äußerst desinteressierte Gehabe des Präsidiums während der Aussprache. Überzeugen konnte und wollte Wolfgang Overath die Kritiker an diesem denkwürdigen Abend allerdings nicht. Nicht einmal besänftigen wollte ob der schier unendlich scheinenden Planlosigkeit des Vereinsverantwortlichen gelingen. Auf den schnippische Hinweis Michael Meiers, nur noch Fragen zu beantworten, folgte aus dem Off der Konter: „Wann jeihst do?“
Gegangen wurde in der Kölnmesse allerdings noch längst nicht, es wartete schließlich noch der emotionale Höhepunkt des Abends auf die Mitglieder des glorreichen 1. FC Köln. Als die Entlastung des Vorstands auf der Tagesordnung stand, schwankte die bis dato eher sitcom’eske Veranstaltung endgültig zwischen kitschigem Drama und überzeichneter Satire: Bei der Abstimmung via Handzeichen bahnte sich an, dass das Präsidium um Wolfgang Overath keine Mehrheit für die Entlastung enthalte würde. Verwaltungsratschef Rolf-Martin Schmitz, damals im Hauptberuf RWE-Vorstand, sondierte die Lage und kam nach einigem Zögern zu der Entscheidung, der Vorstand sei von der Mitgliederversammlung entlastet worden. Auf sein „Das ist die Mehrheit“ folgten tumultartige Szenen, mehrere FC-Mitglieder wollten sogar die Bühne stürmen.
Klare Mehrheit: 1.317 Mitglieder stimmen gegen die Entlastung des Vorstands
Nur langsam beruhigte sich die Lage im Staatenhaus nach diesem handstreich-artigen Versuch, die Mehrheit für sich zu reklamieren. Unter Einsatz des damals noch recht unbekannten Medienanwalts Stefan Müller-Römer entsponn sich die nächste Volte: Eine Wahl, die ordentlich ausgezählt werden würde, sollte folgen. Nach ungewissen Minuten war die Spannung in Köln-Deutz auch um 23 Uhr noch zum Greifen, es herrschte im Staatenhaus weiter Stadionatmosphäre. Nach ungewissen Momenten (O-Ton im Liveticker des Kölner Stadt-Anzeigers: „Wenn hier gleich ‘entlastet’ verkündet wird, brennt Deutz“) wurde dann das historische Ergebnis verkündet: 1.317 Mitglieder stimmten gegen eine Entlastung des Vorstands um Wolfgang Overath, 520 votierten dafür, 104 enthielten sich der Stimme.
“Das ist so ein klares Votum, dass der Vorstand eigentlich die Konsequenz ziehen und dann auch zurücktreten müsste.”
Ein drastischer Denkzettel der FC-Mitglieder, der zwar keine direkten Folgen hatte, doch die Frage nach einem Rücktritt des Weltmeisters an der Spitze der „Geißböcke“ umso lauter ertönen ließ. “Das ist so ein klares Votum, dass der Vorstand eigentlich die Konsequenz ziehen und dann auch zurücktreten müsste“, betonte Müller-Römer nach der Veranstaltung. “Da schlafen wir jetzt erst einmal eine Nacht drüber, dann sehen wir weiter“, erklärte ein sichtlich getroffener FC-Präsident Wolfgang Overath. Schon zuvor hatte sein Vize Friedrich Neukirch geknickt die „krachende Ohrfeige“ (Kölner Stadt-Anzeiger) im Schlussakkord der hitzig geführten Mitgliederversammlung eingestanden: „Natürlich sehen wir die Nicht-Entlastung als ein ganz ernstes Signal. Das ist einfach Demokratie und das muss man auch akzeptieren. Dass man einen gewissen Denkzettel erhält, muss man hinnehmen.Wir werden uns Gedanken machen, was das für unsere Zukunft bedeutet.“
Keine Einsicht am Geißbockheim: Overath nennt Kritiker “Chaoten”
Einen Tag später kam die Situationseinschätzung an der Spitze des Vereins dann allerdings wieder gewohnt realitätsfremd daher. „Wenn ich zurücktrete, dann entscheide ich das ganz alleine. Ob, wann und wie, das bestimmt ganz sicher nicht so eine Gruppe Chaoten“, ließ Overath verlauten und handelte sich mit dieser außerordentlich einfühlsamen Stellungnahme dann gleich die nächste Protestwelle ein. Am Eingang zum Geißbockheim legten FC-Fans Schreiben zahlreicher Mitglieder nieder, stellten Grabkerzen auf und suchten das Gespräch mit dem in der Kritik stehenden Präsidenten. Der versuchte die Situation im Grüngürtel zu beruhigen, ließ die anwesenden Diskussionspartner, zu denen auch der Autor dieser Zeilen gehörte, aber nach einer Viertelstunde bedröppelt zurück. Genug der Sorgen des niederen Fußvolks, es musste schließlich gekickt werden.
Für den FC waren die turbulenten Tage allerdings noch längst nicht vorbei: Zwar erfüllten die in die Pflicht genommenen Profis am Wochenende danach den angesprochenen Punkt, in Stuttgart gewinnen zu sollen, doch der Abwärtstrend im Abstiegskampf dauerte noch eine Weile an. Geschäftsführer Michael Meier, zunächst noch von Overath und Co. gestützt, musste nur wenige Tage danach seinen Hut nehmen, ihn ersetzte als Sportdirektor ein gewisser Volker Finke. Gemeinsam mit Frank Schaefer schaffte der einstige Freiburger Erfolgscoach in einer wahrhaftigen Achterbahnsaison den Klassenerhalt, im Endspurt sah sich Finke gezwungen, für die abschließenden drei Partien selbst den Trainerposten zu übernehmen – mit Erfolg. Die Proteste gegen die Vereinsspitze hatten zu diesem Zeitpunkt längst noch größere Ausmaße angenommen.
Die Macht der Mitglieder – bis heute ein umstrittenes Thema
Die Geschehnisse rund um diesen historischen Abend im Staatenhaus der Kölner Messe sollten den Anfang vom Ende der Overath-Ära markieren. Diese 1.317 Stimmen zur Nicht-Entlastung, die Fanproteste im Stadion und die Organisation einer ernstzunehmenden Opposition waren letztlich die Folge und führten letztlich zum dennoch überraschenden Rücktritt der FC-Ikone im Herbst 2011. Es war allerdings auch der Auftakt zum Ringen um die Deutungshoheit rund um den 1. FC Köln, das bis in die Gegenwart anhält. Wer hält die Leine bei den „Geißböcken“ in der Hand? Diese Frage beschäftigt den Club noch heute. Die Macht der Vereinsmitglieder bekam Wolfgang Overath am 17. November 2010 in Form eines eigentlich folgenlosen Denkzettels zu spüren. Es waren seltene Szenen an diesem historischen Abend im Staatenhaus in Köln-Deutz. Es sollte aber nicht die letzte emotionale Mitgliederversammlung in der Geschichte des 1. FC Köln bleiben.