Fußball ist ein komplexes Spiel. Fußball ist auch ein schwieriger Sport, und Fußball ist nicht zuletzt ein bedeutendes Business. Nach dem ersten Bundesliga-Wochenende während der Corona-Pandemie gehen die Einschätzungen nun in viele Richtungen, wie mit der neuen Normalität ohne Publikum in den Stadien umzugehen sei – die einen berufen sich darauf, dass das Spiel wieder zu seiner puren Form zurückkehrt, die anderen schreiben über den Bedeutungsverlust des Spiels, wenn keine Fans auf das Geschehen reagieren.
Dazu gibt es viele Meinungen, nicht alle muss man teilen, aber alle haben den Hintergrund, dass jeder Mensch für sich entscheiden kann, was er oder sie als Fußball versteht. Nicht ganz an den Haaren herbeigezogen ist in jedem Fall die Annahme, dass die überraschend frühe Wiederaufnahme des Spielbetriebs in der Bundesliga in erster Linie finanziellen Motiven zuzurechnen ist. Dass die sportlichen Belange nicht im Vordergrund standen, wurde bereits ausreichend thematisiert – die Mannschaften starteten ohne großen Vorlauf in die restliche Bundesliga-Saison. Deswegen fällt die Analyse zum Spiel des 1. FC Köln gegen den 1. FSV Mainz 05 auch ein wenig anders aus als sonst.
Den Bundesligisten fehlt die Fußballfitness
Die Mainzer, seit November letzten Jahres angeleitet vom ehemaligen FC-Coach Achim Beierlorzer, hatten folgerichtig mit denselben Problemen zu kämpfen – auch hinter ihnen lagen Wochen im Einzeltraining und nur wenige Tage mit Vollkontakt. Als die DFL den Spielbetrieb im März erstmals wegen des grassierenden Virus aussetzte, war noch nicht ganz klar, wie lange die Pause überhaupt dauern würde – die Athletiktrainer der Bundesliga bereiteten Pläne vor, mit denen sich die Spieler zuhause fithalten konnten. In solchen Phasen ist es möglich, sich mithilfe von Trainingseinheiten zumindest das grundlegende Maß an Ausdauer zu erhalten, auch Krafteinheiten sind problemlos machbar.
Die fußballspezifische Athletik, die sich in vielen explosiven Bewegungsabläufen während des Spiels zeigt, konnte allerdings nicht trainiert werden. Auch der Entscheidungsdruck, unter dem Profis auf diesem Niveau stehen, ließ sich nicht simulieren. Kurz gesagt: Athletisch dürften die Spieler nicht viel verloren haben, die “Fußball”-Fitness hingegen hat arg unter der Zwangspause gelitten. Mittlerweile werden Athletik und fußballspezifische Inhalte nicht mehr separat trainiert, wie das vor einigen Jahren noch der Fall war, als viele Waldläufe auf dem Programm standen.
Durch die Verbindung von taktischen, athletischen und technischen Inhalten schaffen Fußballtrainer heutzutage ein komplexes Angebot, mit dem sie viele Spielsituationen abbilden können – das ist auf diese Weise im Home Office einfach nicht möglich. Die Explosivität, die schnelle Entscheidungsfindung, die Frische in Geist und Körper, das alles fehlte den Spielern merklich. Das ist niemandem zum Vorwurf zu machen, schließlich konnten die besten Trainingsplaner nicht absehen, dass es bereits Mitte Mai weitergehen würde. So war es nicht überraschend, dass dem 1. FC Köln in der Schlussphase der Partie ein wenig die Kräfte abgingen.
Wechsel, Psychologie, Standardsituationen – auf was es ankommt
Von einigen Seiten ist in diesen Tagen zu hören, dass die Profis den Anpassungsprozess in den nächsten Wochen dazu nutzen werden, die benötigte Fußball-Fitness wieder aufzubauen, sodass die Leistungen bald wieder dem ähneln dürften, was man vorher sehen konnte. Gleichzeitig besteht aber die Gefahr, dass bei steigender Belastung und mehreren Spielen in kurzer Zeit die Ermüdungszustände der Spieler bessere Leistungen verhindern – denn auch athletisch besteht Nachholbedarf. Dass das Verletzungsrisiko steigen dürfte, liegt auf der Hand. Von daher ist es zu begrüßen, dass die DFL in ihrer Sitzung letzte Woche den Beschluss fasste, künftig auch fünf Auswechslungen zu ermöglichen.
Damit steht es den Trainern fortan frei, die Hälfte des Personals im Feld während des Spiels auszutauschen – eine spannende Idee. Markus Gisdol machte von dieser Möglichkeit sofort Gebrauch, er wechselte fünf Mal. Gerade auf laufintensiven Positionen bietet es sich an, die Belastung daher gleichmäßig zu verteilen. So kam bereits in der Halbzeit Dominick Drexler für Jan Thielmann, später noch frische Beine mit Kingsley Schindler, Elvis Rexhbecaj, Kingsley Ehizibue und Simon Terodde. Für die Belastungssteuerung in diesen Wochen ist es auf jeden Fall sinnvoll, die neue Regelung zu nutzen.
Für Spieler kann es auch befreiend sein
Ein weiterer Aspekt, der für die Betrachtung des Spiels eine wichtige Rolle spielt, beschäftigt sich mit der Psychologie. Denn auch für die Spieler war es eine Ausnahmesituation, vor leeren Rängen zu spielen – und gleichzeitig unter dem Druck zu stehen, das Hygienekonzept der DFL zu beachten. Zudem war auch für sie lange nicht klar, wann es denn weitergehen würde und wie sie von der neuen Situation betroffen sein würden. Das Fehlen der Zuschauer muss allerdings nicht für alle Spieler etwas Negatives sein, viele von ihnen blühen eventuell auf, wenn sie nicht unter dem unmittelbaren Druck von zehntausenden Menschen stehen, die nach dem dritten Rückpass zu raunen beginnen.
Was auf jeden Fall eine Rolle spielen wird in den kommenden Wochen, ist eine Nivellierung des Heimvorteils. Untersuchungen zeigen, dass Schiedsrichter bei Spielen ohne Publikum weniger dazu geneigt sind, unbewusst das Heimteam zu bevorteilen. Beim Spiel zwischen Köln und Mainz war davon allerdings wenig zu beobachten. Was allerdings zumindest aus Kölner Sicht auffallend war: Die Bedeutung von Standardsituationen. Der FC erzielte seine beiden Tore nach einem Elfmeter und einem schnell ausgeführten Freistoß.
Wettkampfniveau bei Trainingsatmosphäre
Zwar ist es noch zu früh, daraus einen Trend zu erkennen, doch bei Wettbewerben ohne große Vorbereitung ist der Anteil von Toren, die durch Standardsituationen erzielt werden, meistens höher. Das beste Beispiel war dafür zuletzt die WM 2018 in Russland. Für die kommenden Wochen wird es interessant zu beobachten sein, wie sich das speziell beim 1. FC Köln entwickelt – das Team von Markus Gisdol ist grundsätzlich torgefährlich vor allem bei Eckbällen.
Mit dem Ergebnis von 2:2 können die “Geißböcke” in jedem Fall ganz ordentlich leben, weil das Spiel sehr wechselhaft und in Wellen verlief. Für das erste Mal unter den neuen Bedingungen war es schon ganz in Ordnung, wenn man sich nur auf die rein fußballerischen Aspekte auf dem Feld bezieht und die geringe Vorbereitungszeit beachtet. Denn normale Maßstäbe anzulegen, auch beim Textformat der Analyse, wäre in diesen Zeiten ungerecht den Spielern und Mannschaften gegenüber. Sie alle versuchen (rein sportlich) in der Trainingsatmosphäre auf Wettkampfniveau ihre Leistung zu bringen – das wird für alle Beteiligten ein Anpassungsprozess.