Seit 1950 ist der Geißbock elementarer Teil des 1. FC Köln: Was als Schenkung auf einer Karnevalssitzung als Fastelovendsscherz begann, ist längst zur wohl weltweit größten Erfolgsgeschichte eines lebenden Maskottchens geworden. Hennes und der FC – das ist eine unzertrennliche Verbindung, auch wenn der Glücksbringer den nach ihm benannten „Geißböcken“ nicht immer nur Erfolg beschert hat. Ob in Ruhe grasend im Stadion an der Seitenlinie, ob stilisiert als stolzer Bock im Vereinswappen sowie auf Fanartikeln oder im Stadtbild als Wasserspeier am Kölner Dom: Hennes steht symbolisch für den 1. FC Köln und ist omnipräsent in einer Stadt, dessen Heiliger ein meckernder Ziegenbock zu sein scheint.
Ein wenig verwundert es angesichts der Zuneigung, die Hennes in der Domstadt zuteil wird, schon, dass es erst jetzt eine Art Biographie gibt, die sich mit der Geschichte des vermutlich berühmtesten lebenden Maskottchen der Welt beschäftigt. Namensgebung, Todesursachen, Bedeutung für die Stadt: Der Geißbock ist eine Legende, um die sich viele Legenden ranken. In „Patron Hennes – Die Geißbocklegende des 1. FC Köln“ nähert sich Autor Johannes Schröer, der im Hauptberuf für das Domradio arbeitet, auf 240 Seiten dem kölschen Glücksbringer, der längst so viel mehr ist als nur ein Talisman eines Fußballvereins. Das drückt schon der Titel des Buches aus: Ein Patron – das ist im katholischen Köln ein Schutzheiliger, der über die Gläubigen wacht. Was könnte besser zu Köln passen?
Ein Blick in die komplizierte kölsche Seele
„Eines ist mir während der Recherche klar geworden: Das lebende Maskottchen ist mehr als ein Glücksbringer des Fußballvereins. In seiner Geschichte steckt viel von der kölschen Seele“, schreibt Schröer im abschließenden Epilog über seine Erkenntnisse und Beweggründe. Und genau in diesem Motiv liegt die größte Stärke des Buches: Es beschränkt sich nicht darauf, die (vielleicht manchmal dröge) Entstehungsgeschichte des Geißbocks als Maskottchen zu schildern, sondern „Patron Hennes“ ordnet die Beziehung des Kölners zum weltbekannten Glücksbringers soziokulturell ein. Hennes – das ist mehr als nur Fußball und FC. Hennes, das ist wirklich ein Blick in die kölsche Seele. Wo andere Löwen, Adler oder Bären im Wappen tragen, begnügt sich eine jecke Stadt am Rhein mit einem meckernden Geißbock.
„Die Ziege passt deshalb zum 1. FC Köln, weil sie ein schwankendes Tier ist, das diese Doppelbödigkeit in sich trägt. [..] Die Ziege ist eine Tiergestalt, die mal vorwärts stürmt, dann aber auch wieder sehr verzagt ist. Diese ganze Spannbreite greift die Ziege in ihrer Gestalt auf“, versucht sich beispielsweise Psychologe Stephan Grunewald an einer Erklärung der starke Zuneigung der Kölner zu ihrem Geißbock. „Also: Wir wollen nicht immer erfolgreich sein, sondern manchmal haben wir auch etwas davon, wenn wir meckern, wenn wir stehen bleiben – wenn wir einfach nur träumen, wie es sein könnte“, spricht er von einer „gewissen Demut“, die aus der Entscheidung für einen Geißbock als Glücksbringer spricht.
Dass sich das auch aus dem rheinischen Katholizismus speist, betont Schröer immer wieder: „Der Tod ist nicht das Ende des Lebens, da sind die Kölner sehr katholisch. Denn: Wat wellste maache, et kütt wie et kütt und et hätt noh immer jot jejange. Und jeder Jeck in Köln weiß, dass Hennes neben seinem sterblichen natürlichen Körper auch noch einen unsterblichen Glücksbringer- und Maskottchenkörper hat, durch den er die Würde und Macht seiner Existenz als Wappentier des FC verkörpert. Der Nachfolger übernimmt diese Würde des Wappentiers automatisch“, schreibt der Domradio-Redakteur anlässlich des stetigen Wechsels auf der Position, wenn ein weiterer Geißbock den Weg alles Irdischen gegangen war, aber direkt ein neuer Amtsinhaber Gewehr bei Fuß (oder besser: Huf) stand. Quasi: Hennes ist tot, lang lebe Hennes!
Die Ambivalenz des Lebens: Stärken sind zugleich auch Schwächen
Doch wie sich in Hennes die Ambivalenz des Lebens, das Erhabene wie das Erbarmungswürdige widerspiegelt, so liegen auch in „Patron Hennes“ die Stärken und Schwächen nah beieinander. So gelungen und passend die soziokulturellen Einordnungen an den meisten Stellen wirken, kann Schröer seine Herkunft als Autor eines katholischen Magazins über weite Strecken des Buches nicht verleugnen. Der Glaube, der sich auf im Aberglaube zeigt, steht immer wieder im Fokus der Betrachtungen – bis an den Punkt, an dem sich vermutlich mancher Leser augenrollend die Frage stellen, was in Köln denn nichts mit Hennes und der katholischen Kirche verknüpft sein soll. Dass das bei einem Blick in die komplizierte kölsche Seele allerdings nicht ausbleibt, dürfte auch jedem Betrachter klar sein. Das geht natürlich auch nicht spurlos an der Hennes-Historie vorbei.
Apropos Ambivalenz: Genau dieses Gefühl stellte sich bei der Lektüre ein, wenn Schröer sich auf das Glatteis der Dokufiktion begibt. Einerseits vermitteln die (erfundenen) Dialoge und Geschichten dem Leser eine Wohlfühlnähe, die ihn näher ans Geschehen bringt und auch zu tieferem Verständnis für die Situationen befähigt. Auf der anderen Seite läutet im Hinterkopf bei einem solchen Kniff immer die Alarmsirenen, dass es sich eben nur um Fiktion handelt. Ob in Franz Kremers Arbeitszimmer, ob mit einem jungen Fan im Stadion, ob bei Hennes im Stall während der WDR-Konferenz: Es ist realitätsnah, aber eben doch erfunden. Man muss nicht das dicke Brett um den Relotius-Skandal beim „Spiegel“ bohren, um bei einer solchen Vorgehensweise zumindest ein mulmiges Gefühl in der Magengegend zu haben.
Ein Buch, zugleich ein Gewinnspiel
Das dürfte aber angesichts der leichten Kost, die „Patron Hennes“ dem Leser liefert, schnell vergehen. Die interessanten Geschichten und Einsichten rund um den berühmtesten Geißbock auf diesem Planeten, garniert mit zahlreichen großformatigen Bilder, machen das Buch zu einer lesenswerten Lektüre für jeden FC-Fan – und auch darüber hinaus. Kleines Gimmick am Rande: Mit dem Kauf von „Patron Hennes“ holt ihr euch nicht nur die Biographie über das Maskottchen des 1. FC Köln ins Haus, es ist zugleich die Teilnahme an einem Gewinnspiel. In der ersten Auflage des Buches sind 58 Glückslose versteckt – neben kleineren Preisen wie FC-Fanartikel winkt einem glücklichen Leser ein limitierter Steiff-Hennes in Originalgröße. Stubenrein wohlgemerkt!
“Er ist der Patron, er gehört zum FC, zu Köln und wird ewig leben.”
Und was gibt es Schöneres für FC-Fans, als sich das Maskottchen des Vereins auch nach Hause zu holen? Wie heißt es so passend im Buch: „Hennes ist wie ein Verwandter, wie ein Sohn, Onkel, Bruder, Vater und Großvater zugleich. Und weil Blut dicker als Wasser ist, gehört Hennes zur Kölner Fanfamilie ohne Rücksicht auf Leistung, Erfolge und Geschick. Wahrscheinlich ist er sogar der Anführer der Fans, ihr Totemtier. Viele Fanclubs haben sich nach ihm benannt, die bunte deutsche Edelziege hat einen eigenen Wikipedia-Eintrag und es gibt eine Briefmarke mit dem Kölner Wappentier. […] Er ist der Patron, er gehört zum FC, zu Köln und wird ewig leben“, heißt es im abschließenden Kapitel. Amen!
Johannes Schröer: Patron Hennes – die Geißbocklegende des 1. FC Köln. Greven Verlag, Köln 2021. ISBN978-3-7743-0936-4. 24o Seiten, 18 Euro.