Leev Lück,
wenn alles normal laufen würde in dieser verrückten Welt, würde ich diese Zeilen nicht am Veilchendienstag um diese Uhrzeit schreiben und ihr sie vermutlich nicht lesen können. Ich würde meinen Kater von Rosenmontag pflegen und (je nach Ausmaß des störrischen Tieres) einen Veedelszug in Angriff nehmen. Südstadt, Ehrenfeld, Zollstock oder gar nach Pulheim – paar Kamelle einsammeln, paar Konterkölsch nehmen und dann zur Kneipe ums Eck, den schäbbigen Nubbel für meine noch schäbbigeren Sünden an Fastelovend büßen lassen. Was hätte das wieder für ein schöner Abschluss einer schönen Session sein können. Aber nein: Immer noch Corona. Immer noch Pandemie. Immer noch keine Normalität.
Normalität ist allerdings längst wieder zu großen Teilen im Fußball an der Tagesordnung, auch wenn die Fans weiterhin zuhause auf der Couch sitzen statt auf der Tribüne stehen. Von der Zurückhaltung, die zu Beginn der Coronavirus-Pandemie versprochen wurde, von all der Dankbarkeit, seinen Betrieb im Gegensatz zu anderen Branchen nahezu ungestört weiterführen zu dürfen, von all den Erkenntnissen, dass Reformen vielleicht notwendiger sind als gedacht, ist wenig bis gar nichts übrig geblieben. Selbst die von Anfang an reichlich unglaubwürdigen Lippenbekenntnisse, man habe die Fans gehört und verstanden, sind mittlerweile weichgespültem PR-Sprech gewichen. Den Ärger eingehegt, den Ärger schlafen gelegt: Der deutsche Fußball hat eine existenzbedrohende Lage offensichtlich wieder einmal genutzt, den Status Quo zu zementieren.
Der Profifußball kommt seiner Vorbildfunktion einmal mehr nicht nach
Wie wichtig der Fußball sich weiterhin nimmt, das zeigen die vergangenen Wochen dann doch sehr anschaulich: Karl-Heinz Rummenigge und Uli Hoeneß wollen den nationalen Notfall ausrufen, weil ihr FC Bayern zu einem Witzturnier in Katar nicht außerplanmäßig spät aus Berlin abreisen darf. Im arabischen Emirat, Finanzier des deutschen Rekordmeisters und darüber hinaus vermutlich diversen Terrororganisationen, holten Robert Lewandowski, Manuel Neuer und Co. dann ihren nächsten Titel, den in Deutschland derart viele Menschen begeisterte, dass das Finale irgendwo auf einem Streamingkanal versendet wurde. Geschichte wurde geschrieben – eine Geschichte allerdings, die offensichtlich nicht mehr allzu viele unkritisch begleiten und und auch nicht mehr auf ein ausschließlich fußballbegeistertes Land trifft.
Fussball-Wahnsinn.
Feine Grafik übrigens. Da geht bestimmt noch mehr.https://t.co/e9yfPmkJDD pic.twitter.com/ws2unjvY09
— SPORT & POLITICS (@JensWeinreich) February 16, 2021
Dass sich dann auch FCB-Trainer Hansi Flick aufschwang und den medial omnipräsenten Pandemie-Mahner Karl Lauterbach ins Achtung stellte, verstärkte den Eindruck einer komplett entrückten Fußballbranche nur noch mehr. Höhepunkt des Kopfschütteln, das mich fast zum Chiropraktiker brachte: Weil es inmitten der verschlimmerten Situation inklusive diverser gefährlicherer Mutation berechtigte Einreisebeschränkungen aus einigen Ländern gibt, sucht sich die UEFA und die Vereine ein Ausweg. Liverpool gegen Leipzig wie auch Mönchengladbach gegen Manchester City in Budapest, andere Champions-League-Partien finden in Rom, in Villarreal oder in Athen statt. The show must go on – der Ball wie der Rubel muss rollen, da macht auch ein verheerendes Virus nichts. Kurzum: Der Profifußball kommt seiner Vorbildfunktion einfach nicht nach. Einmal mehr.
Klos: “Je länger die Pandemie dauert, desto mehr Menschen werden sich vom Fußball entfernen”
Da wundert es einfach kaum, dass sich immer mehr Fans die Sinnfrage stellen. Bilder von Profifußballer, die durch die Weltgeschichte fliegen, während viele andere auf sehr viel verzichten müssen, machen auch mich sehr nachdenklich. Und wenn sich dann ein Spieler infiziert, wird er in medizinischen Sondertransporten wieder nach Hause gebracht. Tollen Eindruck machen diese Vorbilder da, die nicht nur für Millionen, ach was, Milliarden von uns spielen, sondern nun auch Impfbereitschaft in der Bevölkerung qua PR-Operation erhöhen sollen. So Verbaleskapaden wie Karl-Heinz Rummenigges Gedankenspiel, Profifußballer als Testimonials fürs Impfen an den Start zu bringen (natürlich gänzlich ohne Hintergedanken, zwinkizwonki), lassen mich daran zweifeln, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, diese ganze Branche im vergangenen Frühjahr einfach absaufen zu lassen.
“Wir leben in einer weltweiten Pandemie, aber selbst wenn jetzt noch zwei Drittel der Welt in Flammen stehen würden, dann würden wir immer noch Fußball spielen müssen.”
Das scheinen auch manche Profis verstanden zu haben. Wie wohltuend in all dem Wahnsinn war da das Interview von Fabian Klos, der im Interview mit dem Westfalen-Blatt aus seinem Herzen keine Mördergrube machte. „Je länger die Pandemie mit all ihren Auswirkungen dauert, werden sich die Leute mehr und mehr von dem Fußball, wie wir ihn kennen und lieben gelernt haben, entfernen“, formulierte es der Kapitän von Arminia Bielefeld ganz deutlich. Und sah dafür die Branche selbst in der Verantwortung. „Überspitzt formuliert kann man den Eindruck gewinnen: Wir leben in einer weltweiten Pandemie, aber selbst wenn jetzt noch zwei Drittel der Welt in Flammen stehen würden, dann würden wir immer noch Fußball spielen müssen“, sagt Klos im Hinblick auf die Klub-WM und die Ortswechsel im Europapokal. Ob das tatsächlich alles zwingend notwendig sei, das müssten andere entscheiden.
Wir sind nicht die Hauptschuldigen, aber wir sind Teil des Problems
Die anderen: Damit dürfte unter anderem die Politik gemeint sein. Aber nicht ausschließlich, wie zum Beispiel Klaas Reese in einem äußerst lesenswerten Kommentar für den Deutschlandfunk formuliert: „Es zeigt sich also einmal mehr: Die größte Gefahr für den Profifußball geht nicht von den Fans, sondern von den Funktionären aus. Und es zeigt sich, dass es endlich mehr Politikerinnen und Politiker braucht, die sich trauen deren Forderungen zu widersprechen. Und es braucht eine Öffentlichkeit, die sagt: Diesen Wahnsinn machen wir nicht mehr mit. Das schauen wir uns nicht mehr an“, heißt es dort angesichts der Entwicklungen in der jüngeren Vergangenheit, die das fehlende Gespür für die Gesamtsituation unter Beweis gestellt hatten: „Denn nur ohne Öffentlichkeit werden Sponsoren irgendwann ihre Unterstützung infrage stellen und nur dann werden die Verantwortlichen merken, dass sie so nicht mehr weitermachen können.“
Und genau deswegen muss auch klar gesagt werden: Wir können nicht alles, was derzeit im Fußball passiert, auf den Nubbel schieben. Auch wir sind Schuld – weil wir von unseren Clubs und dem ganzen Business offensichtlich nicht lassen können. Trotz fehlender Verantwortung in der Pandemie, trotz moralisch fragwürdigem Verhalten der Vereine, trotz größenwahnsinnigen Superleague-Plänen, trotz all der Rummenigges, Hopps und Infantinos. Wir sind vielleicht nicht die Hauptschuldigen, aber wir sind definitiv Teil des Problems. Ob es sich lohnt, gegen all die Windmühlen in diesem kaputten System, das sich nicht reformieren will, anzukämpfen? Das muss wohl jeder für sich beantworten, wie auch die Frage nach der eigenen Schmerzgrenze bei der Zuneigung zu einem Fußballunternehmen. Aber ohne den Status Quo zu erkennen, wird niemand eine Lösung für die Herausforderungen finden können.
Der FC nur die Nummer 2 der Chaosklubs
Das gilt übrigens auch für den 1. FC Köln – oder hattet ihr gedacht, ich würde an Fastelovend in meiner Kolumne ohne ein Wort zum Derbysieger unserer Herzen auskommen? Gut, dass das Team endlich einmal gegen die Klepper positiv überrascht hat. Schlecht, dass alles bei uns immer noch nicht nach Fußball aussieht. Und auch neben dem Platz hat der FC nicht allzu viel mit professionellem Arbeiten zu tun, wenn ich auf die vergangenen Wochen schaue. Aber gut: Wer hätte anderes erwartet? Immerhin schafft es der kommende Gegner, uns in den Schlagzeilen als Chaosverein den Rang abzulaufen. Ich befürchte allerdings, dass das in Müngersdorf am Samstag gegen den VfB Stuttgart genauso aussehen wird, wenn Silas Wamangituka und Co. Fahrt aufnehmen. Aber was läuft überhaupt derzeit schon normal?
Dreimol Kölle alaaf!
Euer Jeff Jas
In unregelmäßigen Abständen schreibt Jeff Jas an dieser Stelle über die groben Fouls und versteckten Nickligkeiten im Fußball, die Diskussionen auf dem Platz, an der Seitenlinie, in der Kabine, auf der Tribüne und an der Theke. Er fühlt sich überall zuhause, wo der Ball rollt: Vom Aschenplatz auf der Schäl Sick über das Müngersdorfer Stadion im Kölner Westen bis zu den Hochglanzarenen dieser Welt.