Die Aufregung, die um die Zug-Pöbeleien gegen AfD-Chef Bernd Lucke entstanden ist, zeigt es: Fußballfans sind längst zur journalistischen Rubrik geworden. Doch diese Agenda birgt Risiken, die nicht auf den ersten Blick ersichtlich sind. Kommentar von David Schmitz.
Zunächst einmal etwas Grundsätzliches: “Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch”, sagte Joschka Fischer einst zu Bundestagsvizepräsident Richard Stücklen, nachdem dieser den Abgeordneten Jürgen Reents ausgeschlossen hatte. Der spätere Außenminister mag nicht das allerbeste Vorbild für eine gesittete politische Rhetorik sein, doch sein Ausspruch macht etwas deutlich: Politiker sind auch nur Menschen. Und sie behandeln sich gegenseitig wie eben solche. Sie werden aber auch vom Volk, das sie zu regieren wünschen, so behandelt. Dass es dabei nur bei verbalen Attacken bliebe, ist ein frommer Wunsch. Ob Torten, Farbbeutel oder natürlich die seit Jahrhunderten erprobten Eier – die Realität sieht anders aus.
Am vergangenen Wochenende schallte dem Chef der “Alternative für Deutschland”, Bernd Lucke, im ICE von Berlin nach Köln von Anhängern des 1. FC Köln entgegen: “Wir wollen keine Nazis hier!” Die Anwesenheit des umstrittenen Politikers schmeckte den Fans offenbar gar nicht. Doch es blieb bei harschen Worten. Lucke konnte planmäßig in Wuppertal aussteigen – es war sein ursprüngliches Reiseziel. Das ließ er später ausrichten.
Vermutlich käme der Chef der rechtsgeneigten AfD aus dem Klagen auch gar nicht mehr heraus, wenn er jede Beleidigung, die ihm zuteil wird, anzeigen würde. Da dürfte es vielen Kollegen ähnlich gehen, die es in der Bekanntsheitsskala weit nach oben geschafft haben. Natürlich rechtfertig das die Beleidigungen nicht. Doch ob Prominenter oder Politiker, wer in der Öffentlichkeit arbeitet, wird öffentlich bewertet. Ob in Netzkommentaren, oder auf der Straße, der Ton ist rau.
Kein echter Nachrichtenwert vorhanden
“Wenn Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann das Recht, anderen Leuten das zu sagen, was sie nicht hören wollen”, befand seinerzeit George Orwell. Diese Freiheit endet dort, wo der Strafbestand der Beleidigung anfängt – natürlich. Demokratie und Meinungsfreiheit an sich sind jedoch nicht bedroht, wenn jemand diese Grenze überschreitet. Jeden Tag, in jeder Stadt, beleidigt ein Mensch einen anderen. Die Grundordnung der Gesellschaft wird dadurch nicht erschüttert. In diese Richtung zu argumentieren, ist lächerlich. Denn eigentlich ist überhaupt nichts passiert, das tatsächlich Nachrichtenwert gehabt hätte. Doch in diesem Fall gab es Faktoren, die bewirkt haben, das aus einer Nichtigkeit eine Story wurde.
Erstens war das Opfer ein Politiker. Das allein würde wohl schon reichen. Dass es mit Bernd Lucke aber ausgerechnet den Chef der umstrittenen AfD getroffen hat, verstärkte die mediale Wirkung nur noch mehr. Woran liegt das?
Keine Frage, der Fußball ist keine bloße Sportart mehr, sondern eben auch Teil der Kultur dieses Landes. Deshalb bekommt er Aufmerksamkeit von Fans und Wirtschaft. Das wiederum macht ihn relevant für die Politik. Themen, mit denen man eine hohe Reichweite erzielt, sind dort immer reizvoll, um das politische Profil zu schärfen und Wähler zu gewinnen.
Entscheidender ist jedoch der zweite Faktor: #fußballfans. So könnte man es zumindest heutzutage bezeichnen. Sprich: Die Anhänger sind längst eine losgelöste Rubrik in der medialen Aufarbeitung. Die Fan-Berichterstattung läuft nicht mehr bloß am Rande der sportlichen. Sie ist im Kontext von Fehlverhalten oder Straftaten zur eigenen – vermutlich überaus klickträchtigen – Kategorie in den (Fußball-)Medien geworden. Das ist legitim, es geht schließlich viele Leser etwas an.
Mediale Hysterie, politische Bühne
Tückisch daran ist, dass es eine sich selbstbefeuernde Maschinerie ist. Durch erfolgreiche (also meist reißerische) Berichterstattung über Fan-Fehlverhalten wird das Thema auf die mediale Agenda gesetzt, was wiederum die Politik dazu antreibt sich mit der vermeintlichen Problematik zu befassen, um sich gegenüber dem empörten (ironischerweise aber meist ziemlich unbeteiligten) Leser (Wähler) zu profilieren. Dabei kommen oft vermeintlich populäre Restriktionsfantasien oder verallgemeinernde Urteile über die Anhänger, besonders über die Ultras heraus. Die Fans, die sich dadurch herabgewürdigt sehen, reagieren mit Protest, über den dann wieder (klickträchtig) berichtet wird. Das Rad dreht sich, es funktioniert.
Diese Ausgangslage kann erklären, warum unschöne, aber im Grunde sehr normale Auseinandersetzungen in Zügen zum Thema werden. Erst durch die oft hektische, unreflektierte Berichterstattung über Sachverhalte, die ohne Fußball-Kontext kaum eine Spaltenmeldung im Lokalteil wert gewesen wären, entsteht eine Situation, in der die Politik aktiv werden kann.
Das Problem: Presse und Politik können davon profitieren – die Fans nicht. Mehr Klicks, mehr Auflage, mehr Reichweite bedeuten eben auch mehr Geld in der Kasse. Umtriebige Innenpolitiker können derweil bei all denen punkten, die, obwohl sie nie ins Stadion gehen, Angst vor dem medial vorgegaukelten allgemeinen “Gewaltproblem” im Fußball haben.
Gespenst namens “Gewaltproblem”
Es wird ein Gespenst bekämpft, das es so gar nicht gibt. Das soll nicht heißen, dass es keine Probleme innerhalb der deutschen Fan-Kultur gäbe. Immer wieder schlagen Anhänger über die Stränge, leisten sich teilweise verstörend-plumpe Gewaltexzesse und verletzen dabei Polizisten oder Unbeteiligte. Eine allgemeine Gefährdungslage ergibt das aber noch lange nicht.
Unterm Strich bleibt: Fußball und Stadionbesuche sind sicher. Das ändert sich auch nicht, wenn man allen Fans mit der Lupe auf die Finger schaut. Und ganz besonders dann nicht, wenn man dabei über die (vorhandenen) positiven Aspekte nicht berichtet, während man das Negative seziert.
Das “die wollen uns nicht”-Gefühl
Doch diese Art der Berichterstattung kann auch an anderer Stelle wirksam werden. Schließlich öffnet sie der Politik die Tür. Und das nicht nur medial, indem sie Zitate einholt. Denn der Fokus auf die Verfehlungen dürfte von den Fans als Stigmatisierung empfunden werden. Als Reaktion darauf folgt soziale Abschottung. Der Zusammenhalt wird gestärkt. Das “die wollen uns nicht”-Gefühl verstärkt das Wir-Gefühl innerhalb der Szene. Wenn zum medialen Druck politischer hinzukommt, ist das Risiko gegeben, dass einzelne Fan-Gruppen sich nicht nur weiter abschotten und radikalisieren, sondern sich dann auch politischen Akteuren zuwenden, von denen sie sich (vermeintlich) vertreten fühlen.
Es ist keine Neuheit mehr, dass rechtsgerichtete, teilweise auch rechtsradikale Parteien und Strömungen probieren, in diesen Gewässern zu fischen. Bei den meisten dieser Parteien finden sich irgendwo Forderungen danach, die “Fanrechte” zu stärken, Stadionverbotspraktiken zu ändern, oder ähnlich populäre Themen, die in den Szenen relevant sind. Dort bieten sie Kontaktpunkte für Frustrierte.
Dass ein provinzieller AfD-Kreisverband den Lucke-Vorfall dafür genutzt hat, seine Weltsicht zu verkünden, ist nur eines der jüngsten Beispiele. Lokaler war die Angelegenheit da noch, als “Pro Köln” probierte auf dem Rücken der Aufstiegseuphorie rund um den 1. FC Köln Wähler zu gewinnen. In der Domstadt greift die Taktik nur (sehr) bedingt, anderenorts funktioniert sie besser. Schnell ist das Gedankengut dann nicht mehr nur in Richtung Fanrechte orientiert.
Hinzukommt schließlich noch ein letzter, simpler Faktor, der die Maschinerie mit am Laufen hält: Die Aufmerksamkeit, die den wenigen Chaoten medial zuteil wird, kann wie eine Belohnung wirken. Die Popularität einer Aktion verstärkt Anerkennungseffekte innerhalb der Fanszene und übt gegebenenfalls auch einfach einen starken Nachahmungsreiz auf (jüngere) Mitglieder aus. Man kennt das aus der Schulzeit, wenn dem Klassenkamerad ein besonders derber Streich geglückte, und er dafür gefeiert wurde.
Skandalisierung treibt Szene in rechte Gewässer
Es scheint keine adäquate Reaktion zu sein, dass Politik und Presse im Grunde einfach nur den Finger heben, Ängste und Vorurteile schaffen und mit Verboten drohen. Fan- und damit auch Ultra-Kultur sind Jugendkulturen, und sollten als solche auch anerkannt werden. So wie bei anderen Sub- bzw. Jugendkulturen gibt es dabei immer wieder Mitglieder, die zu weit über die Grenzen gehen, an denen sie sich reiben wollen. Ignoranz der ganzen Subkultur gegenüber rechtfertig das allerdings nicht.
Wenn Politik und Medien sich auf diese Vorfälle fixieren, sie teilweise unabhängig von der Schwere der Tat skandalisieren, nur weil sie von Fußballfans begangen wurden, werden sie nicht nur der Sache nicht gerecht. Sie riskieren aber auch, die Anhänger in eine Richtung zu treiben, in der fragwürdige neue Freunde mit offenen Armen auf sie warten. Spätestens die Vermischung von Fanszene und der Pegida-Bewegung, die stellenweise deutlich sichtbar ist, dürfte das eindrücklich gezeigt haben.
Es ist eine verworrene, komplexe Situation, keine Frage. Die Presse folgt ihren Instinkten und entwickelt schnell ihre eigene Dynamik. Aber sie ist genauso wenig die Wurzel allen Übels, wie die Politik. Eine einfache Lösung gibt es leider nicht. Doch wäre es nicht schon einmal ein guter Anfang, nicht ganz so schnell in Hysterie zu verfallen? Nur weil irgendetwas von Fußballfans begangen wurde, wird es schließlich nicht relevanter. Das ist keine Forderung nach einer Ausnahme, sondern nach journalistischer Normalität.
Die Kölner AfD hat ihren Chef übrigens mittlerweile zu einem Heimspiel des 1. FC Köln eingeladen. “Wir sind sicher, dass es keinen besseren Ort gibt, Herrn Lucke die politisch vielfältige und tolerante Anhängerschaft unseres Vereins vorzuführen, als das RheinEnergieStadion”, heißt es da in einem offenen Brief. Oberbürgermeisterkandidat Hendrik Rottmann ist außerdem spontan Mitglied des Vereins geworden, teilte der Kreisverband mit. Der Brief ist an die “Fritz-Kremer-Allee 1” adressiert.