Als “Maskottchen” dieser Bestrebungen kristallisierte sich vor gut einem Jahrzehnt der fußballerisch über jeden Zweifel erhabene Mesut Özil heraus, der sich (trotz harscher familiärer Kritik) dazu entschied, für die deutsche Nationalmannschaft aufzulaufen. Öffentlichkeitswirksam wurde seine Rolle dann auch gleich durch Kanzlerin Angela Merkel betont, die 2010 nach einem 3:0-Sieg gegen die Türkei (mit Özil-Tor) dem Regisseur der Nationalmannschaft ihre Glückwünsche aussprach. Das Motiv der politischen Instrumentalisierung von Sportlern für die eigenen Zwecke tauchte sowohl bei Erdogan als auch bei Putin auf, der den Ehrenspielführer der Nationalmannschaft, Lothar Matthäus, ebenfalls für die eigenen Zwecke einspannte. Matthäus erntete aber nicht annähernd so viel Kritik wie Özil und Gündogan.
Eine vergiftete öffentliche Diskussion bringt Özil zum Rücktritt
Acht Jahre später bekam Özil mit seinem Teamkollegen Gündogan Kritik aus dem gesamten politischen Spektrum zu hören – alleine die Tatsache, dass Linke, Demokraten, Konservative und Rechtspopulisten allesamt einen Aufhänger für ihre (un)sachlichen Äußerungen fanden, hätte Özil und Gündogan zu Denken geben müssen. Dass auf dem Trikot, das Gündogan dem türkischen Staatspräsidenten für dessen Sammlung überließ, die Worte “Für meinen Präsidenten” standen, wird von Schulze-Marmeling zwar angesprochen, aber nicht näher untersucht: Dies ist einer der wenigen sachlichen Fehler dieses ansonsten so hervorragend recherchierten und geschriebenen Buches. Die Verwendung des Possessivpronomens “mein” erfolgt in der türkischen Sprache allgemeiner und häufiger, um Nähe und Sympathie auszudrücken. Keinesfalls ist es aber von derselben Tragweite wie die deutsche Übersetzung und deshalb vor dem Hintergrund der Debatte zu relativieren.
Der Autor zeichnet in der Folge die Entwicklung der Affäre in den darauffolgenden Wochen nach, analysiert dabei den Einfluss des türkischen Nationalismus und des deutschen Rassismus. Begleitende Worte von ehemaligen Fußballgrößen, die eigentlich besser die Klappe gehalten hätten, finden auch ihren Platz – dieser Exkurs dient dazu, aufzuzeigen, wie vergiftet und bigott die Debatte von Anfang an gewesen war. Das Ausscheiden der deutschen Nationalmannschaft wird aus sportlicher Sicht ebenfalls untersucht.
2014 war alles rosig, vier Jahre später gar nichts mehr
Als das Team des DFB im Jahr 2014 noch den WM-Titel gewinnen konnte, dominierte Raphael Honigsteins Buch “Der vierte Stern: wie sich der deutsche Fußball neu erfand” im Nachgang die fußballsprachliche Literatur. Deutschland hatte es geschafft, mithilfe eines jungen, ethnisch gemischten Teams zu gewinnen, Integration galt als eine der Schlüsselaufgaben im Verband und generell war alles gut. Vier Jahre später ging so ziemlich alles schief, was schiefgehen konnte: Die ohnehin schon stark nach rechts gerückte politische Debatte bekam durch das Abschneiden des DFB in Russland noch mehr Feuer als ohnehin schon. Der Diskurs radikalisierte sich in diesem Jahr zusehends, von “Willkommenskultur” konnte keine Rede mehr sein. Und wenn dann des Deutschen liebstes Kind, die Nationalmannschaft, erstmalig in der Vorrunde ausscheidet, ist ein historisches Konglomerat an Katastrophen perfekt.
Schulze-Marmelings Buch ist dementsprechend als Standardwerk zu betrachten, dessen Wirkungsmacht auf die Bereiche Gesellschaft, Sport und Politik abzielt. Es ist eine treffende Zusammenfassung der Stimmung in diesem Land, das weniger offen zu sein scheint, als viele denken. Und das kann man sagen und gleichzeitig Özils und Gündogans Foto mit Erdogan kritisieren.
Informationen zum Buch
Der Fall Özil: Über ein Foto, Rassismus und das deutsche WM-Aus. 192 Seiten, 13,5 x 21 cm Paperback, mit Beiträgen von Robert Claus, Ilker Gündogan und Diethelm Blecking, ISBN: 978-3-7307-0431-8, Bestellbar über diverse
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