Die Vereine, die die Bundesliga während der Saison 2017/18 im Europapokal vertreten und vertreten haben, sorgten dafür, dass die Bundesliga “allenfalls noch zweitklassig ist – wenn überhaupt!” (Bild). Das nationale Getöse über eine angeblich “desaströse Saison” (Sport1) ist dabei vor allem eines: nervtötend.
Wussten Sie schon, dass Deutschland wieder mal einen Krieg verloren hat? Und dabei erneut auf zahlreichen europäischen Schlachtfeldern unterlegen war? Egal ob es sich um Rheinländer, Ostdeutsche, Hauptstädter oder Provinzkäffer handelte: Sie alle verloren neben den Schlachten auch die deutsche Ehre gegen unfair hochgerüstete Gegner, die sich mit moralisch fragwürdigen Methoden, im Vergleich zu den selbstverständlich einwandfreien der deutschen, schlichtweg bessere Waffen beschaffen konnten.
Lediglich ein kleines und unzähmbares bayrisches Völkchen stemmt sich bis heute erfolgreich gegen die Niederlage und pflügt sich weiter durch die Kontrahenten, als seien es Weißwürste in einem Bierzelt auf dem Oktoberfest. Und Walter Benjamin wusste schon 1930, was ein verlorener Krieg im Volk hinterlässt: “Einen Krieg gewinnen oder verlieren, das greift, wenn wir der Sprache folgen, so tief in das Gefüge unseres Daseins ein, daß wir damit auf Lebenszeit an Malen, Bildern, Funden reicher oder ärmer geworden sind. Und da wir einen der größten der Weltgeschichte, einen Krieg verloren, in dem die ganze stoffliche und geistige Substanz des Volks gebunden war, so mag man ermessen, was dieser Verlust bedeutet.”
So oder so ähnlich scheinen sich viele zu fühlen, die nun schon seit vielen Wochen die Sportteile sämtlicher Gazetten mit Texten füllen müssen. Gegenstand der Berichterstattung war hierbei die UEFA-Fünfjahreswertung und die Position des deutschen Profi-Fußballs, die durch das schwache Abschneiden vieler Klubs nicht gestärkt wurde. Die stets besonders entschieden klingende Sprache der Texte macht dabei weder vor der Bild (“Sogar Zypern ist erfolgreicher als wir!”) noch vor der SZ (“Debakel-Spieltag”) halt. Ganz im lokalpatriotischen Sinne stellte der Kölner Stadt-Anzeiger gar Anfang November die Frage, ob “der 1. FC Köln mit seiner Niederlagenserie das Abschneiden der Deutschen in der Fünfjahreswertung” gefährde und beantwortete die Frage gleich selbst mit nein. Denn schließlich geht es den Franzosen noch viel schlechter. Immerhin das, n’est-ce pas?
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Können deutsche Teams nur laufen und kämpfen?
In der aktuellen Ausgabe des kickers breitet der Kölner Reporter Frank Lußem auf drei Seiten ebenfalls aus, dass und warum die deutschen Spieler und Klubs sowieso international keine Rolle spielen. Lußem stellt in seinem Text die These auf, Jürgen Klopp sei zu einem großen Teil daran schuld, da dieser den (damals keineswegs sonderlich erfolgreichen) Bundesliga-Fußball deutlich beschleunigte und die technische Schwäche durch höhere Schnelligkeit und Konterfußball kompensierte. Gegenpressing, der neue angehimmelte Spielmacher, als Allheilmittel quasi. Dies und der daraus resultierende Erfolg führten Lußem zufolge nun dazu, dass “nur zu häufig der Versuch [übrig blieb], mittels brachialer Bolzerei die Ansätze des überlegenen Gegners zu zerstören.” Ferner behauptet er, “das Spiel” sei “technisch anspruchsloser geworden.” “Risikoarm, abwartend, einfallsarm” seien die Spiele, heißt es, gefolgt von der Frage “Schlechter Fußball als System?”, belegt mit Zitaten intellektueller Größen wie unter anderem Mehmet Scholl und Stefan Effenberg.
Abgesehen vom Anwurf gegenüber Klopp, der beim BVB nach jahrelanger Trostlosigkeit die Grundlage dafür legte, dass sich ein Fußballverein, der nicht irgendeinen halbseidenen Milliardär als Geldgeber im Hintergrund hat, als langfristige Nummer 2 der Bundesliga und respektierte Größe in der Champions League etablieren konnte; dass Borussia Dortmund den Meistertitel holen und sogar verteidigen konnte (vor der weiter immer noch währenden Serie des FC Bayern), ist Lußems Theorie auch in sportlicher Hinsicht unsinnig. Klopps Team rückblickend implizit technisch schwache Fähigkeiten zuzuschreiben, ist falsch. Zumal es keineswegs eine neue Entwicklung ist, dass schwächere Teams sich auf defensive Stabilität und Konterfußball fokussieren – warum auch nicht, wenn es dem Ligaerhalt und konstanten Einnahmen dient? Auch weil sich die DFL sich bezüglich der “50+1”-Regel weiter so inkonsequent verhält wie bislang (Mateschitz, Hopp, Bayer und VW sehr gut, Ismaik dagegen eher böse) und somit die Wettbewerbsverzerrung innerhalb der Liga weiter verstärkt, wird es immer zunehmend Vereine geben, die den Pragmatismus vorziehen.
Zuschauerschwund wegen fußballerischen Mängeln?
Es war auch selten anders – einzig die Ausdehnung der fußballerischen Mittelklasse lässt sich als neuer Faktor für pragmatische Kicks konstatieren. Dass der Bundesliga-Fußball allerdings “technisch anspruchsloser” geworden sei, kann nur ein schlechter Witz sein. Spieler, die am Ball ungefähr so stark sind wie Jens Jeremies stehen heute maximal noch beim effzeh oder dem Hamburger SV in der Startelf. Das Gegenteil ist richtig: Gerade weil der Fußball viel schneller als vor einigen Jahren ist, sind technische Qualitäten immer wichtiger. Verkappte Leichtathleten wie David Odonkor haben schon im Jugendfußball keine Chance mehr, weil ihre Trainer vom Verein oftmals die Vorgabe haben, technisch starke Spieler zu fördern. Das ist übrigens schon seit vielen Jahren so – und sorgt für perfekt ausgebildete Kicker, die bereits mit jungen Jahren in der Bundesliga auftrumpfen können.
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Dies und weitere Klischees (italienische Vereine wissen bei ihren Erfolgen offenbar stets mit unattraktivem Ergebnisfußball zu glänzen) verweist Lußem auf den Zuschauerschwund in Bundesligastadien, unter anderem in Köln, Hamburg, Berlin und Wolfsburg. Während die Bemerkung zu Wolfsburg noch mit einem knappen Grinsen registriert werden kann, fällt einem zu der Behauptung, dass der laut kicker technisch mittlerweile anspruchslosere Fußball daran Schuld sein könnte, wenig ein. Außer vielleicht der Hinweis auf die Platzierungen beider Vereine während der letzten zehn Jahre, die hohen Eintrittspreise nebst fanunfreundlicher Terminansetzungen, die sich schlichtweg zu den aktuell grottenschlechten Leistungen der Mannschaften gesellen.
Das verzweifelte Anschreiben gegen die zunehmende Gleichgültigkeit
Ein weiterer Grund für sinkendes Interesse am Profifußball dürfte in der offenkundigen Übersättigung der Zuschauer bestehen. Da man heutzutage dank Pay-TV und Internetstreaming zu fast jeder Zeit ein Fußballspiel sehen kann, hat es grundsätzlich an Reiz verloren, zum Fußball zu gehen. Wären das technische Niveau der Spiele oder der Stand in der Fünfjahreswertung ernstzunehmende Gradmesser für den Zuschauerandrang, müsste der Profifußball in kleinen Ländern schon längst ausgestorben sein. Das ist er aber natürlich nicht, denn im Profisport steckt mehr Geld als jemals zuvor, für einige halbseiden agierende Staaten ist er längst zum außenpolitischen Instrument geworden. Die Fünfjahreswertung interessiert wahrscheinlich nur noch die wenigsten Fans: Warum sollte man auch in einem Europacupspiel zu einem Verein halten (oder ihn gar besuchen), wenn man ihn in den Ligaspielen am Wochenende stets die Pest an den Fuß wünscht?
Aber so funktioniert der sich nur von Tag zu Tag aktualisierende Sportjournalismus zumeist: Irgendjemand behauptet etwas (der deutsche Fußball geht unter), der Rest plappert das leise und laut nach (siehe oben) und irgendwann wird auch der größte Unfug zur Wahrheit umgedichtet. Vor einem halben Jahr war der deutsche Nachwuchs noch die Crème de la Crème schlechthin (U21-Europameister nach einem Sieg gegen faule Iberer), heute liegt der deutsche Ligafußball am Boden (in der Fünfjahreswertung schlechter als Zypern). Und um das alles zu belegen, stellen Journalisten Behauptungen auf, die im Grad der Absurdität noch höher steigen als die Nackenhaare der Leser bei der Lektüre der Texte. Roger Schmidt und Jürgen Klopp galten jahrelang als Trainerkoryphäen, nun sind sie mitschuldig am schleichenden Tod des deutschen Fußballs. So schnell kann’s gehen, so witzig kann Journalismus sein. Dennoch gilt derzeit oft, was Dante im sechsten Höllengesang der Göttlichen Komödie festhielt: “An jenem Tage lasen wir nicht weiter.”