Es ist schon schade, dass Kevin Großkreutz’ Vertrag beim VfB beendet wurde – wohl niemand war näher an den Fans als er. Schuld an seiner Karrieredelle daran trägt der Weltmeister allerdings ganz alleine. Ein Kommentar.
Kevin Großkreutz’ Ausflug ins Stuttgarter Nachtleben kam dem Weltmeister von 2014 teuer zu stehen: Mitte der letzten Woche gaben sein ehemaliger Verein, der VfB Stuttgart und er die Auflösung seines Vertrags bekannt. Unter Tränen entschuldigte sich der ehemalige Borusse Großkreutz bei den Fans und seiner Familie. Kein Wunder also, dass im Nachgang in allen mehr oder weniger respektablen Sportredaktionen des Landes in imposanter Eile Kommentare zu dieser Angelegenheit gezimmert wurden – schließlich kommt es ja nicht allzu häufig vor, dass der Vertrag eines erst 28-jährigen Weltmeisters aufgelöst wird.
Hinzu kommt, dass der Sachverhalt als solcher ebenfalls durchaus fragwürdig erscheint. Unter der Woche als frischgebackener Familienvater mit U17-Nachwuchsspielern des eigenen Vereins im Nachtleben unterwegs zu sein und anscheinend auch auf einen Bordellbesuch nicht zu verzichten, entspricht nicht wirklich dem, was man sich unter dem normalen Lebenswandel eines Fußballprofis vorstellt.
Symbolfigur des Dortmunder Powerfußballs
Aus dieser Perspektive ist es mehr als schade, dass eine der Symbolfiguren des Dortmunder Aufschwungs ab 2009 nun betont, vorerst “nichts mehr mit dem Profifußball zu tun” haben zu wollen. Unter der Leitung des Vollgas-Fetischisten Jürgen Klopp konnte der junge Kevin Großkreutz, gerade aus Ahlen gekommen, sich zu dem vielseitigen Fußballer entwickeln, der später von Joachim Löw sogar für den Weltmeister-Kader 2014 nominiert wurde. Wenn der Kloppsche Fußball von einem Spieler verkörpert wurde, dann wohl von Großkreutz. In den beiden Meisterjahren 2011 und 2012 spielte der “Anti-Fußballer” Großkreutz fast jedes Spiel.
Die entscheidenden Attribute waren Laufstärke und Spielintelligenz, auch seine Fähigkeiten im Gegenpressing waren damals außergewöhnlich. Seine Rolle im CL-Finale 2013 gegen die Bayern verdient heute noch Respekt. Im Anschluss daran ging es jedoch leicht bergab in seiner Karriere, in der der Weltmeister-Titel aus dem Jahr 2014 auf ewig auch mit ihm assoziiert werden wird: Das misslungene Intermezzo bei Galatasaray wurde gefolgt von einer Zeit in Stuttgart, die jetzt nach Abstieg und längerer Verletzungspause ein plötzliches Ende fand.
Ungeachtet dessen, was in der Nacht auf Dienstag der letzten Woche am Stuttgarter Wilhelmsplatz tatsächlich vorgefallen ist: Kevin Großkreutz’ Arbeitsverhältnis beim VfB Stuttgart wurde zurecht beendet. Das kann man bedauern oder auch nicht, fest steht, dass Großkreutz mit diesem Kapitel einen weiteren Beweis dafür erbracht hat, die Mechanismen des Geschäfts nicht verstanden zu haben. Es ist ja nicht das erste Mal, dass ein Spieler an dem scheitert, was der sehr homogene, glattgebügelte und konfliktscheuende Profifußball als normales Verhalten einfordert.
Hier greifen dann dieselben Regeln wie auch in der Gesellschaft: Auch dort gilt jemand als “anders”, wenn er sich nicht anpassen will und freudig Dinge tut, die “normalerweise” niemand tun würde. Im Fußballgeschäft wird in einem solchen Fall dann relativ schnell von einem “Typen” gesprochen, obwohl man eigentlich nicht genau weiß, was die Definition des Begriffs eigentlich umfasst.
Typ Schwiegersohn? Einfach professioneller!
Häufig wird despektierlich über Profis wie Philipp Lahm oder Mats Hummels gesprochen, die allerdings auch neben dem Platz nichts anderes sind als hochgradig professionell. Von Ausschweifungen jeglicher Art ist bei beiden nichts bekannt. Sofern allerdings jemand aus der Reihe der braven Schwiegersöhne heraustritt und zu gewissen Dingen anders Position bezieht, als man es eigentlich erwarten würde, stürzen sich sofort Fußballfans und Medien auf diesen Spieler, um ihn für ihre Zwecke umzudeuten.
Fans suchen Identifikation, Medien machen sich dies zunutze und schreiben den Narrativ vom “etwas anderen Profi” bereitwillig fort. Beispiel gefällig? Gerne: Wer erinnert sich nicht an Thomas Broich, den feingeistigen Spielmacher aus Burghausen, der anlässlich einer Dokumentation erklären durfte, wie es eigentlich zu seinem Spitznamen “Mozart” kam. Irgendwann hatte Broich im eigenen Auto klassische Musik gehört, ein Teamkollege hatte dies mitbekommen und für ein Stück des größten Österreichers vor Peter Stöger gehalten, Broich hatte für den Rest seiner Karriere in Deutschland einen neuen Spitznamen.
Dass er nicht 24 Stunden am Tag Klassik hörte, spielte keine Rolle, Broich war “Mozart”. Irgendwann wurde er auch mit einem Buch abgelichtet, fertig war der Narrativ vom intellektuellen Fußballprofi, der in seiner Freizeit Camus liest und vor dem Eckball an die Diskursivität des späten Adorno denkt. Aus einer solchen Kategorisierung wieder herauszukommen dürfte fast unmöglich sein, schließlich erleichtert das Denken in Schubladen das menschliche Miteinander.
Auch Großkreutz gefiel sich in seiner Rolle
Zugegeben: Kevin Großkreutz bespielt nicht die Klaviatur des Fußball-Intellektuellen, soviel steht fest. Aber auch er, und wenig überraschend sein Kölner Kumpel Lukas Podolski, jonglieren mit Werten, die den Fans wichtiger sind als alles andere. Loyalität, Identifikation, Heimatverbundenheit, Fanthemen wie Pyrotechnik oder Kommerzialisierung. Und ja, das macht sie natürlich irgendwo sympathischer als andere.
Wenn Kevin Großkreutz als kleiner Junge auf der Südkurve davon träumt, mit seinem BVB Meister zu werden, ist die Erfüllung dessen natürlich eine romantische Geschichte. Wenn Kevin Großkreutz dafür verantwortlich ist, internationalen Neuzugängen beizubringen, was es “bedeutet, ein Borusse zu sein”, dann zeigt das natürlich auch, dass er mehr ist als ein Profi, der sich ausschließlich für Instagram und die neuesten Porsche-Modelle interessiert.
Wenn Kevin Großkreutz über Instagram seinen ehemaligen Mitspieler und jetzigem RBL-Akteur Timo Werner ins Achtung stellt, weil dieser sich zu Tradition im Fußball äußert, dann ist das natürlich lobenswert. Wenn der VfB im vergangenen Sommer den bitteren Gang in die zweite Liga antreten muss und viele Spieler das sinkende Schiff verlassen, Großkreutz aber offen betont, die Scharte des Abstiegs auswetzen zu wollen – was kann man mehr tun, als so etwas zu loben?
Aus kölscher Sicht kommt bei der Betrachtung der Causa Großkreutz noch hinzu, dass dieser auch Kontakte in die Kölner Fanszene und vor allem zu den “Boyz” pflegte. Seit 2011, so bekannte Großkreutz in mehreren Interviews, würde sein Herz auch für den 1. FC Köln schlagen. Seither wurde er mehrfach in Köln-Trikots abgelichtet, wovon verschiedene soziale Medien Zeugnis geben.
Fußballer haben Rechte, aber auch Pflichten
Kevin Großkreutz schien sich in der Rolle des letzten “Fußball-Arbeiters” zu gefallen, der in erster Linie für die Fans spielt und nicht für das Geld. Doch auch er muss akzeptieren, dass in der Unterhaltungsindustrie Fußball gewisse Regeln gelten, die man sich zu unterwerfen hat. Wenn der neue VfB-Präsident Dietrich direkt nach Amtsantritt einen Verhaltenskodex an alle Mitarbeiter verteilt, dann tut er das nicht, um ein überschüssiges Kopierbudget zu verringern.
Ein Zusammenarbeiten in einer komplexen Organisation wie einem Fußballverein kann nur funktionieren, wenn sich alle an die definierten Regeln halten. Nächtliche Ausflüge mit Jugendspielern gehören definitiv nicht dazu. Der VfB hat arbeitsrechtlich alle Trümpfe in der Hand, einen Mitarbeiter aufgrund eines solchen Verhaltens entlassen zu können. Da hilft es dann auch nicht, wenn der Mitarbeiter 2014 Weltmeister wurde. Kevin Großkreutz’ Naivität scheint wohl der Hauptgrund dafür gewesen zu sein, dass seine Karriere jetzt eine erhebliche Delle erleidet.
Viele Kinder wollen Fußballprofi werden, viele Fußballprofis wollen Weltmeister werden. With great power comes great responsibility, hieß es schon bei Spiderman – das Privileg, auf Lebzeiten Weltmeister zu sein, sollte auch ein Fanliebling wie Großkreutz nicht missbrauchen. Der Drang, in welcher Form auch immer am Nachtleben teilzunehmen, sollte also genau dann aufhören, wenn man stärker im Fokus der Öffentlichkeit steht als andere. Typen wie Philipp Lahm oder Mats Hummels sind zwar weniger beliebt bei den Fans, sie füllen ihre Rolle als Fußballer jedoch einfach verantwortungsbewusster aus. Und Weltmeister sind sie auch.