Er musste an das denken, was der Trainer ihm gesagt hatte. Kurz vor der Abfahrt des Busses hatte er ihn zur Seite genommen. „Du musst den Laden zusammenhalten, Du bist der Kapitän“, hatte Bernd Stöber betont und dann mit einem Klaps auf die Schulter hinzugefügt: „Ich verlass’ mich auf Dich. Enttäusch‘ mich bitte nicht!“ Nein, das würde er nicht, davon war er überzeugt.
Er war schon in so vielen Mannschaften Kapitän gewesen, zunächst in der Kreisauswahl, später in der Mittelrheinauswahl und auch beim 1. FC Köln. Auf dem Spielfeld hatte er seine Mitspieler geführt, ihnen Halt gegeben, sie motiviert und, wenn nötig, auch zusammengestaucht, wenn es nicht lief. Auch wenn er erst vor einem Monat 15 geworden war, wusste er, was von ihm verlangt wurde, kannte er sich aus.
Im Duell mit Clarence Seedorf
Er kniff die Augen zusammen, die Sonne schien ihm direkt ins Gesicht. Man schrieb den 25. September 1990, der frühe Herbst besaß noch die Wärme des gerade verklungenen Sommers. Seine Gedanken wanderten zu dem heutigen Gegner. Die niederländische U15-Nationalelf war eine spielstarke Mannschaft mit Akteuren wie Patrick Kluivert, Giovanni van Bronckhorst – und Clarence Seedorf. Seedorf würde sein Gegenspieler sein, ein zentraler Mittelfeldspieler mit ausgezeichneter Technik, enger Ballführung und einem glasharten Schuss. Er kannte Seedorf aus einigen Freundschaftsspielen, die er mit dem FC gegen Ajax Amsterdam ausgetragen hatte. Der Spielmacher war der Dreh- und Angelpunkt seines Teams. Ihn auszuschalten würde der Schlüssel zum Erfolg sein.
Der Bus passierte das Ortsschild von Dörpen und bog nach links in die Ortschaft ab. Im Bus war von dem sonst üblichen fröhlichen Geplapper nichts zu hören. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Anspannung und Konzentration lagen in der Luft, gemischt mit einer kaum greifbaren Vorfreude auf ihr erstes Spiel für die deutsche Nationalmannschaft. Im Innenspiegel des Fahrzeugs konnte er die Gesichter seiner Mitspieler erkennen. Er sah Marcus Wedau, blickte in das ernste Gesicht von Kai Michalke, bemerkte den schmächtigen Lars Ricken, einen technisch hochveranlagten Spieler, der es aber wegen seiner fehlenden Robustheit nicht in die Startelf geschafft hatte.
René Hahn, sein Mitspieler beim FC, sah es als erster. Sie waren noch gut einen Kilometer vom Stadion entfernt, aber schon hier bemerkten sie zahlreiche große Schülergruppen, die offensichtlich in Richtung Stadion unterwegs waren, ihnen zuwinkten und begeistert ihre Deutschlandfähnchen schwenkten. Die Schulen des Kreises hatten den Tag zu einem Wandertag genutzt, der die Schüler in den schmucken Sportpark des SV Blau-Weiß Dörpen zum U15-Länderspiel zwischen Deutschland und Holland führte. Das Stadion befand sich mittlerweile in Sichtweite, der Bus kam jedoch nur noch im Schritttempo voran. Immer mehr jugendliche Fans säumten die Straße und verengten so den Fahrweg. Sie skandierten „Deutsch-land-vor, noch-ein-Tor“, Fan-Trompeten nahmen den Rhythmus auf und fügten ohrenbetäubende Ausrufezeichen hinzu. Noch mehr Fähnchen wurden geschwenkt, die Atmosphäre glich der eines großen Derbys.
Aufgabe erfüllt und die Niederlande mit 2:0 besiegt
Auch im Bus wurde es nun lebendig. Nein, damit hatten sie nicht gerechnet. Zu ihren Spielen im Verein verirrten sich zumeist kaum mehr als 70, 80 Schaulustige – wenn überhaupt. „Wahnsinn!“, schallte es von der Rückbank. Die Menschenmenge ließ erahnen, dass sie heute vor mehreren tausend Zuschauern spielen würden! „Unglaublich!“, rief jemand im Mittelgang. Es hielt sie nicht mehr auf ihren Sitzen, sie mussten sich einfach gegenseitig versichern, wie toll das hier war!
Dennis Kings hatte den Laden zusammengehalten. Er hatte ihn nicht enttäuscht. Ein echter Kapitän eben.
Fast drei Stunden später kehrten die letzten Spieler in die Kabine zurück. Sie waren kaputt, aber glücklich, hatten sie doch die Niederlande mit 2:0 besiegt, ein richtig gutes Spiel gemacht. Der mittelblonde, athletisch gebaute Spieler mit der Kapitänsbinde am Arm saß etwas abseits. Er hatte die Augen geschlossen und dachte an Momente des Spiels zurück. An die Gänsehaut beim Abspielen der Nationalhymne, an den ersten Zweikampf, den er gegen Seedorf gewonnen hatte und dem eine ganze Reihe weiterer gefolgt waren, an die beiden Tore, die Carsten Hinz und Til Bettenstaedt erzielt hatten. Er öffnete die Augen, dann begegnete ihm der Blick seines Trainers. Bernd Stöber lächelte – und nickte. Dennis Kings hatte den Laden zusammengehalten. Er hatte ihn nicht enttäuscht. Ein echter Kapitän eben.
Gut dreißig Jahre später sitze ich Dennis Kings gegenüber, allerdings nur virtuell per Skype, Corona gestattet nicht mehr. Der wortgewandte Mittvierziger ist ein sehr angenehmer Gesprächspartner, der detailgenau Bericht erstattet über sein Leben mit und nach dem Fußball. Ich spüre seine Leidenschaft für den Sport, dem er – wenn auch mit Unterbrechungen – bis heute treu geblieben ist. Sein Humor blitzt gelegentlich genauso auf wie Nachdenkliches, wenn er über die Schattenseiten seiner Zeit im jogo bonito, dem schönen Spiel, spricht, das eben bisweilen seinem Namen keine Ehre macht.
Die Anfänge als Fußballer: Klein, aber oho!
Gebürtig stammt Kings aus Köln, und dort schnürt er auch als Fünfjähriger seine ersten Fußballschuhe für den dortigen Postsportverein. Der Club besitzt zu der Zeit noch keine F-Jugend, so dass Kings zunächst der E-Jugend zugeordnet wird, in der er mit seinem drei Jahre älteren Bruder Robin zusammenspielt und die zeitweise von seinem Vater trainiert wird. Ernst Kings gibt seinem Sohn regelmäßig einige wenige Minuten Spielpraxis, hauptsächlich gegen Ende der Begegnungen. Schließlich richtet der PSV Köln eine eigene F-Jugend ein, in der Kings im Sturm spielt und sehr schnell Stammspieler wird. Er schießt Tore, viele Tore, in einer Saison über 100.
Sein Talent ist unübersehbar, und so meldet ihn sein Vater Anfang 1984 zu einem Probetraining beim 1. FC Köln an. Er trainiert bei der E-Jugend des FC und gewinnt das abschließende Trainingsspiel mit seiner Mannschaft 5:0 – alle fünf Tore erzielt Dennis Kings. Nicht nur deswegen sind die Verantwortlichen des Geißbockclubs sehr angetan von seinem fußballerischen Talent und verpflichten den jungen Torjäger. „Das Gespräch mit meinen Eltern und mir führte Christoph Daum, der damalige Jugendcheftrainer“, erinnert er sich. „Er füllte mit uns die notwendigen Unterlagen aus und gab uns dann noch den ein oder anderen Ratschlag.“
Der Wechsel zum FC, von Kreis- und Mittelrheinauswahl zum DFB