Vorweg: Ein Buch über das Geschehen auf dem Platz ist es nicht, was Mirco von Juterczenka mit Unterstützung seines Sohns Jason verfasst und veröffentlicht hat. Der Vater des Asperger-Autisten beschreibt eine Kombination aus zermürbendem Familienalltag, aus dem die beiden seit Jahren am Wochenende ausbrechen, um Fußballspiele zu besuchen. Wahrscheinlich ist es aber genau das, was das Buch zu einem so lesenswerten Werk macht, denn die schönsten Geschichten um den Fußball finden eben nur selten auf dem Rasen statt, sondern außerhalb. Im echten Leben.
Dieses echte Leben der Familie von Juterczenka, die außerdem die Mutter und Tochter umfasst, ist massiv von Jason und seinem Autismus geprägt. In einer bedrückenden wie herzerwärmenden Weise schildert der Familienvater die alltäglichen Erlebnisse mit dem Sohn, die je nach Grad der Abweichung von den für Jason nötigen Strukturen und Routinen für alle Beteiligten drastisch ausfallen können. Um diese möglichst gering werden zu lassen, entscheiden sich Mutter und Vater früh dafür, dass sie zuhause den Laden schmeißt, während er in Vollzeit arbeitet und aufgrund vieler Dienstreisen oft keine Zeit für seine Familie hat.
Wochenendrebellen: Eine andere Wahrnehmung des Fußballs
Um sich Zeit mit seinem Sohn, der Mutter geringe Verschnaufpausen und der kleinen Tochter etwas Aufmerksamkeit zuhause zu verschaffen, fährt Mirco von Juterczenka mit dem Filius zum Fußball. Die Ziele bestimmt der Kleine, die Kriterien (möglichst lange Zugfahrt, verschiedene Orte, mindestens alle Stadien der ersten drei Ligen) erscheinen dem Vater nicht immer nachvollziehbar, aber er fügt sich. Besuche am Millerntor, im Westfalenstadion, auf Schalke und in Müngersdorf stehen ebenso auf dem Plan wie solche in Aalen, Babelsberg oder Aue.
Aufgrund der anderen Wahrnehmung des täglichen Stadionwahnsinns durch Jason erhält der Vater bei vielen Besuchen einen anderen Blick auf das Geschehen. Faszinierend und liebevoll erzählt er davon, wie Jasons Einschätzungen seine Wahrnehmung verändert haben. So fiel ihm etwa der Sponsoringwahnsinn in Aalen auf (Jason wollte dorthin, weil er das Elefantentröten bei den gesponsorten Eckballansagen gefiel), das Beben der Erde in Dortmund, die Unlogik diverser Fangesänge (“Ich bin kein Schalkefan, also muss ich mich setzen.”) oder die Schönheit Aues. Gleichwohl führt sie auch zu unangenehmen Situationen, etwa wenn er im ICE eine Verbalattacke seines Sohnes gegenüber einem Kellner (“Die Scheiße kannst du alleine fressen!”) tolerieren muss, weil Jason es hasst, wenn Essensteile zusammengemischt werden – in dem Fall Spaghetti mit Tomatensauce. Jason maßzuregeln, das wusste er inzwischen, hätte alles nur weiter eskalieren lassen.
Inhalt und Form – von Juterczenka ist ein gutes Buch gelungen
Die häufig verwendete, das Buch beschreibende Kurzparabel, wonach ein autistischer Junge jeden Verein sehen müsse, bevor er sich für einen als Fan entscheide, trifft in der Realität nicht zu. Es geht um weit mehr – nämlich darum, wie eine Familie die autistische Eigenschaft ihres Kindes akzeptiert, versucht, ihn überall zu unterstützen sowie sich und ihm ein schönes Leben zu ermöglichen. Noch intensiver als die Stadionerlebnisse werden die familiären Ausnahmesituationen geschildert. Ein ganzes Kapitel widmet der Autor deshalb seiner Frau und seiner Tochter – nach der Lektüre dessen weiß man, weshalb.
Vielen Dank an die vielen Besucher der Lesung der Wochenendrebellen heute Abend. Es sind 540€ für die @SuboticStiftung gespendet worden. pic.twitter.com/iSr0iltc2W
— Definitionsmacht CLN (@Dfntnsmcht_Cln) July 13, 2018
Was dieses Buch abseits des Inhalts so lesenswert macht, ist die Klarheit in der Sprache. Mirco von Juterczenka entschuldigt sich zu Beginn dafür, dass er kein Autor sei – nach Lektüre seiner Erzählungen möchte man ihm ein lautes “Unbegründet!” entgegenschleudern. Ganz ohne pseudophilosophische Ausschweifungen über die Bedeutung des Fußballs für und auf die Gesellschaft und sonstwen, zu denen etwa der schwafelige Wolfram Eilenberger neigt, schildert er einfach nur Situationen aus dem Leben. Er tut das jedoch nie unreflektiert, sondern zeigt dabei einen klaren moralischen Kompass.
Fußball als Ablenkung vom Alltag – und so viel mehr
Hoffnungsvoll stimmt alle Lesenden zudem, dass der Autor oft erwähnt, auf wie viel Verständnis und Hilfe seine Familie in der Gesellschaft bezüglich Jason stößt. Dieser hat davon inzwischen so profitiert, dass die Lehrkräfte schon fragen, ob und wofür er überhaupt noch eine Schulassistenz benötige. Damit ist das Buch auch eine Absage an alle, die eine empathielose, kalte Gesellschaft herbeischreiben. Es gibt viele gute Menschen, nicht nur für Jasons Familie, sondern überall sonst. Nur sind sie deutlich leiser als die ganzen Arschlöcher.
Die Besuche beim Fußball konnte Jason fast immer genießen. Wenngleich der Zirkus groß ist, folgt auch er gewissen Routinen, auf die sich “der Sohn” verlassen kann. Aber der Fußball ist weit mehr als Ablenkung vom Alltag oder Vater-Sohn-Ausflüge. Er kann spontan ungeheuer integrative Wirkung entfalten, etwa wenn ein autistisches Kind auf St. Pauli gebeten wird, das Ende eines Banners zu halten und so auf einmal mitten im Fangeschehen ist. Oder er bringt unbekannte Eigenschaften hervor, etwa die Ausdehnung von Leidens- oder Schamgrenzen.
Klar ist nach Lektüre dieses Buch nur etwas, das auch schon vorher bekannt war: It’s more than a game. Wenn man überhaupt etwas an diesem Buch auszusetzen haben könnte, dann, dass der herausgebende Verlag Red Bull gehört. Das war’s dann aber auch.
Mirco von Juterczenka: Wir Wochenendrebellen. Salzburg 2017, Benevento-Verlag, 244 Seiten. Bestellbar über diverse Portale.