Im Endspiel tritt Schaefers Team beim FC Augsburg an. Die 2:0-Führung der Schwaben hat bis zwei Minuten vor Schluss Bestand, als den Kölnern ein Foulelfmeter zugesprochen wird. Rocco Kühn verwandelt sicher und verkürzt auf 1:2, doch die Augsburger retten den Vorsprung über die Zeit. „Augsburg war einfach besser“, erinnert sich der frühere Dresdener. „Noch in der Kabine wurden deren beiden besten Spieler, Christian Krzyzanowski und Ilhan Mansiz, der später seine erfolgreichste Zeit bei Besiktas Istanbul hatte und 21 A-Länderspiele für die Türkei absolvierte, vom FC verpflichtet.“
Talentiert und erfolgreich, aber zunehmend einsam
Kühns Leistungen bleiben auch beim DFB nicht unbemerkt, und so beruft ihn Rainer Bonhof wiederholt in die U18-Nationalelf. Sein Mannschaftskamerad aus der Sachsenauswahl, Michael Ballack, gehört nicht zum Kader der DFB-Auswahl. „Ballack spielte damals beim Chemnitzer FC und gehörte weiterhin der Sachsenauswahl an, wurde jedoch vom DFB nie zur Jugendnationalelf berufen, sondern durfte erst in der U21 das Nationaltrikot überstreifen und wurde danach zum Weltstar“, berichtet Kühn.
„Einen vergleichbaren Fall hatten wir beim FC. In der A-Jugend waren wir damals gespickt mit Jugendnationalspielern, außer mir unter anderem Hagen Brinkmann, Marco Weller oder Sven Fischer, um nur einige zu nennen. Der einzige Spieler, der es nachhaltig in den Profibereich geschafft hat, war Alex Voigt, und der hat nie für eine Jugendnationalelf gespielt.“
Vor der Saison 1994/95 porträtiert der Express fünf Nachwuchshoffnungen des FC auf der Hauptseite seines Sportteils. Carsten Jancker und Pablo Thiam werden aufgeführt, Sven Fischer und Hagen Brinkmann – und Rocco Kühn.
Er gehört nun zum älteren A-Jugendjahrgang. Vieles ist ihm inzwischen vertraut, er hat sich an die anstrengende Arbeit als Lehrling in der Zimmerei Meyer gewöhnt und auch an die Ausdauereinheiten im Training, die ihn im letzten Jahr immens geschlaucht hatten. Die körperliche Beanspruchung bis hin zur Erschöpfung hatte in der vorigen Saison etwas überdecken können, was ihm nun immer stärker bewusst wird. In Köln hat er Mannschaftskameraden, Mitbewohner und Arbeitskollegen, aber er hat keine wirklichen Freunde. Er ist sportlich erfolgreich, Jugendnationalspieler, in einem Jahr winkt ihm möglicherweise einen Profivertrag, doch ein Gefühl ergreift immer mehr Besitz von ihm, das Gefühl von Einsamkeit.
Seine Familie und die Freunde aus Dresdener Zeiten sind weit weg. Die Mitbewohner des Jugendhauses und auch die anderen Mitspieler in der A-Jugend des FC gehen noch zur Schule und haben dort ihre Freunde gefunden, treffen sich mit ihren Cliquen. Rocco Kühn verbringt die Samstagabende alleine in seinem Zimmer vor dem Fernseher, schaut die Sportschau und das Sportstudio und trinkt dazu ein, zwei Flaschen Kölsch. Die leeren Flaschen stapeln sich in seinem Schrank, er vergisst einfach, sie zu entsorgen.
Der Bruch in seiner Karriere
Sonntagsvormittags, während die A-Jugend ihre Meisterschaftsspiele austrägt, putzt Frau Ostmann die Zimmer der vier Nachwuchsspieler, so auch Kühns Zimmer. Dabei stößt sie zu Beginn des Jahres 1995 versehentlich an seinen Schrank und hört ein klirrendes Geräusch. Sie schaut nach, findet die leeren Bierflaschen und informiert Frank Schaefer über den offensichtlichen Verstoß gegen das im Jugendhaus bestehende strikte Alkoholverbot.
„Frank Schaefer sprach mich darauf an,“ erinnert sich Kühn. „Ich versuchte ihm den Sachverhalt zu erklären, allerdings ohne Erfolg. Ich wurde zu den 2. Amateuren des FC geschickt, die damals unter Trainer Georg Winkelhoch in der Bezirksliga spielte, und musste dort trainieren und spielen.“ Der junge Torjäger ist am Boden zerstört, bezieht aber etwas Hoffnung aus der Tatsache, dass der Verein dem DFB nichts von dem Vorfall mitteilt. Rocco Kühn wird weiter zur deutschen U18-Nationalelf eingeladen, die Anfang 1995 zu einem Dreiländerturnier nach Namibia eingeladen wird.
„Auf diese Weise kam ich zum ersten Mal in meinem Leben nach Afrika,“ erzählt der frühere Dynamo-Spieler. „Wir flogen von Frankfurt los bei Temperaturen um den Gefrierpunkt und stiegen in Windhoek bei 40 Grad im Schatten aus dem Flugzeug. Uns wurde dort wirklich viel geboten. Ein Empfang durch den deutschen Botschafter und sogar eine unvergessliche Safari in die Kalahari standen auf dem Programm.“
Das Ende des Weges beim 1. FC Köln
Nach Hause zurückgekehrt, wird Rocco Kühn der bizarre Charakter seiner Situation bewusst. Vor wenigen Tagen in der Mannschaft der elf besten A-Jugendlichen seines Jahrgangs auflaufend und als Jugendnationalspieler willkommener Gast der deutschen Botschaft, spielt er nun weiter für die 2. Amateure des 1. FC Köln – auf den Aschenplätzen der Bezirksliga.
Er schießt auch dort seine Tore wie auch für die deutsche U18-Nationalelf, an seinem Status beim Geißbockclub ändert sich jedoch nichts. Das große Stürmertalent gehört einfach nicht mehr dazu. „Ich kann verstehen, dass Frank Schaefer als verantwortlicher Trainer der A-Jugend auf meinen Verstoß gegen die Regel des Jugendhauses reagieren musste,“ räumt er ein. „Ich hatte allerdings gehofft, dass man einem jungen Spieler wie mir vom Verein wieder eine Chance geben würde, da ich weiterhin meine Tore schoss und ordentliche Leistungen zeigte.“
Eigentlich hat er noch ein Jahr Vertrag beim FC, aber Rocco Kühn merkt, dass sein Weg beim FC zu Ende ist und fordert das ihm zustehende letzte Vertragsjahr nicht ein. Er absolviert bis Ende 1995 noch einige Spiele für die 2. Amateure, seine Gedanken kreisen aber nicht mehr in erster Linie um den Fußball.
Mit 20 zum ersten Mal Vater
Seine Jugendfreundin ist inzwischen nach Köln gezogen, nach einiger Zeit kündigt sich Nachwuchs an. „Da bekam ich ein Angebot vom VFB Leipzig, der mittlerweile in der 2. Liga spielte“, erzählt der frühere Dresdener. „Da war sie doch, die Chance, Profi zu werden; allerdings hätte ich bei einem Wechsel meine Lehre abbrechen müssen. Ich musste mich entscheiden, sollte ich alles auf die Karte Fußball setzen oder die Berufsausbildung zu Ende bringen und einen ‘ordentlichen’ Beruf ergreifen? In einigen Monaten würde ich meine junge Familie ernähren müssen. Ich sagte Leipzig ab.“
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