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Lebenswege beim 1. FC Köln: Massimo Cannizzaro – “Der, der den Ball duzte”

Foto: Martin Rose/Bongarts/Getty Images

Massimo Cannizzaro kommt drei Minuten vor dem vereinbarten Zeitpunkt zu unserem Interview in das kleine Café in Köln-Widdersdorf. Er hat sich äußerlich kaum verändert gegenüber seiner Zeit beim FC vor 20 Jahren, nur die Haare trägt er etwas kürzer. „Ich bin gerne pünktlich“, erläutert er später in unserem Gespräch und ergänzt mit einem verschmitzten Lächeln: „Typisch deutsch, eigentlich!“

Seine Wurzeln sind allerdings italienisch, genau genommen liegen sie in der sizilianischen Kleinstadt Modica, aus der seine Eltern nach Köln kamen und dort einen Gastronomiebetrieb betrieben. Als der siebenjährige Massimo seinen Eltern mitteilt, dass er fortan nicht mehr nur auf dem Bolzplatz Fußball spielen wolle, sondern den Wunsch äußert, sich dem TSV Rodenkirchen anzuschließen, sind diese zunächst wenig angetan von dem Vorhaben ihres Sohnes und willigen erst nach wiederholtem Insistieren des Filius ein.

„Ich war immer schon stur“, sagt er. „Wenn ich mir etwas in den Kopf setze, dann tue ich alles, um es auch durchzusetzen.“ Ein ehemaliger Spieler des TSV Rodenkirchen sollte später einmal einer seiner ersten Berater werden – Karl-Heinz Thielen, FC-Legende als Spieler, Manager und Vizepräsident. Die vielen Tore, die Massimo Cannizzaro für den Verein erzielt, wecken das Interesse von Fortuna Köln an dem inzwischen 10-jährigen Stürmer.

Das große Vorbild: Roberto Baggio

Da seine Eltern durch die Arbeit im familieneigenen Restaurant sehr eingespannt sind, muss er selber seine Fahrten zum Training in der Südstadt organisieren. In den Duellen der Fortuna gegen Bayer Leverkusen und den 1. FC Köln fällt er den Spähern auf und nach 39 Toren in der letzten Saison beim Südstadt-Club holt ihn Frank Schaefer zum FC. „Das war ein schönes Gefühl, für den größten Verein Kölns und einen der bedeutendsten Clubs Deutschland zu spielen“, erinnert sich Cannizzaro. „Vor allem aber war ich unheimlich stolz darauf, dies alles alleine ohne große Unterstützung erreicht zu haben.“

Foto: TIM CLARY/AFP/Getty Images

Aber er will mehr, möchte es seinem Vorbild, dem 56-fachen italienischen Nationalspieler, Weltfußballer 1993 und im gleichen Jahr Europas Fußballer des Jahres,  Roberto Baggio, gleichtun, an dem er sich nicht nur fußballerisch orientiert. „Natürlich war er ein genialer Fußballer, der aber sein Feuerwerk nur auf dem Spielfeld abbrannte. Er war ein vollkommen seriöser Sportler, privat führte er ein Leben ohne Skandale und ohne Glamour“, sagt der ehemalige Fußballer über sein Idol. „Er ist immer noch mit der Frau verheiratet, die er schon seit Jugendtagen kennt. Außerdem hat mir imponiert, wie er nach seinen vielen schweren Verletzungen immer wieder zurückgekommen ist.“

Viele Tore, aber kein Einsatz in einer Jugend-Nationalmannschaft

Baggios Spitzname „„Il Divin Codino“ (zu deutsch: das göttliche Zöpfchen) und die damit verbundene Haartracht ahmt Cannizzaro ab Mitte der 90er Jahre nach. Als er dann in einer Zeit, als die Jugendspieler des FC noch einheitlich schwarze Fußballschuhe tragen, sich auch beim Schuhwerk an den blauen Diadora-Fußballschlappen seines Vorbilds orientieren will, zieht er sich den Zorn seines Trainers zu.

Die U18-Nationalelf hätte mir die Möglichkeit gegeben, international zu spielen. Wer weiß, wie meine Karriere dann verlaufen wäre.

Seinem eigenen Motto „Der Ball muss hinter die Linie“ eifert er aber mindestens ebenso strebsam nach und erzielt für die Jugendteams des FC Tore, viele Tore. So gerät er auch in das Blickfeld von DFB-Trainer Uli Stielike, der ihn für die U18-Nationalmannschaft nominieren möchte. „Das Problem war, dass ich keinen deutschen Pass hatte“, erinnert sich Cannizzaro.

„Ich wollte auch nicht wirklich die deutsche Staatsbürgerschaft nur wegen einer Berufung zur Jugendnationalmannschaft annehmen. Meine Überlegung war auch, dass, wenn sich der DFB um mich bemüht, eine Einladung des italienischen Fußballverbands in die U18 Italiens nicht lange auf sich warten lassen würde. Dazu ist es aber nie gekommen.“ Der Italiener zuckt bedauernd mit den Schultern. „Das war ein Riesenfehler. Die U18-Nationalelf hätte mir die Möglichkeit gegeben, international zu spielen. Wer weiß, wie meine Karriere dann verlaufen wäre.“

Dank Toren wie am Fließband zum Profivertrag

Tore schießt er weiter wie am Fließband. Die 21 Treffer, die er im zweiten A-Jugendjahr erzielt, bringen ihm den Pokal des besten Torschützen der A-Jugend-Regionalliga West ein. Er ist noch keine 18, als er im Büro des damaligen FC-Managers Hannes Linßen einen Zwei-Jahres-Vertrag beim Geißblockclub unterschreibt und Profi wird. „Ich war auf Wolke sieben“, erinnert sich der ehemalige Vollblutstürmer. „Ein Traum war Wirklichkeit geworden.“

Auf der nächsten Seite: Die Anfänge im Profifußball – und das Verletzungspech.

Seine erste Saison als Profi will Massimo Cannizzaro unbedingt im bestmöglichen körperlichen Zustand beginnen und hält sich auch im Urlaub in Italien mit ausgedehnten Strandläufen fit. Am vorletzten Tag seines Urlaubs knickt er bei seinem Strandlauf um und zieht sich eine schwere Meniskusverletzung zu, die ihn ausgerechnet in der wichtigen Saisonvorbereitung für mehrere Wochen außer Gefecht setzt.

Nicht nur wegen dieser Verletzung tut sich der Profi schwer als bei weitem jüngster Spieler in einem Kader, der vornehmlich aus deutlich älteren Spielern besteht. Auch das Verhältnis zu Trainer Ewald Lienen ist nicht einfach. „Natürlich habe ich auch den ein oder anderen Fehler gemacht. Aber ich war jung, erst 18. Ich hätte mir einfach gewünscht, dass man die Fehler anspricht und dann mit mir zusammen versucht hätte, sie abzustellen.“

Zu Beginn der Profikarriere mehr verletzt als auf dem Feld

Weil er die Saisonvorbereitung bei den Profis wegen seiner Blessur verpasst hat, trainiert und spielt er bei der zweiten Mannschaft des FC. Bei einem Spiel in Duisburg zieht er sich eine Verletzung zu, die zunächst als Pferdekuss diagnostiziert wird, sich aber als wesentlich schwerwiegender herausstellt, da Gefäße geplatzt sind und es zu Kalkablagerungen im Oberschenkel kommt. Massimo Cannizzaro fällt über ein Jahr aus.

Das hat mich natürlich enorm in meiner fußballerischen Entwicklung zurückgeworfen.

Er kommt zurück, zieht sich aber eine Verletzung nach der anderen zu: Muskelfaserriss, Bänderriss, doppelter Bänderriss. „In den zwei wichtigsten Jahren nach der U19 war ich fast nur verletzt“, erinnert sich mein Gesprächspartner. „Das hat mich natürlich enorm in meiner fußballerischen Entwicklung zurückgeworfen.“

2002 läuft sein Vertrag in Köln aus. Der damalige Manager Andreas Rettig bietet ihm eine Verlängerung um ein Jahr an, was Cannizzaro jedoch ablehnt. „Ich wollte mich anderen Verantwortlichen präsentieren, einen neuen Anfang machen“, sagt er. Sein damaliger Berater, Thomas Kroth, arbeitet mit Pierre Littbarski zusammen, damals Trainer des MSV Duisburg. Littbarski setzt Cannizzaro in einem Freundschaftsspiel der MSV-Profis in Lüttich ein, das Spiel wird 1:0 gewonnen, der italienische Probespieler erzielt das Tor. Er bekommt einen Vertrag beim MSV, Cannizzaro soll zunächst bei den Amateuren spielen mit der Perspektive, zu den Profis aufzusteigen.

Den Teufelskreis verlassen – Cannizzaro geht nach Italien zurück

Unter Trainer Bernhard Dietz spielt er gut und erzielt bis zum Dezember neun Tore. Norbert Meier, der mittlerweile Littbarski als Trainer abgelöst hat, ist sehr angetan von Cannizzaro und bedeutet ihm, dass er ihn für die Vorbereitung auf die zweite Saisonhälfte zu den Profis hochziehen wolle. Motiviert durch diese Ansage seines Trainers trainiert er auch in der Winterpause täglich, absolviert Laufeinheiten, stemmt Gewichte. Doch dann schlägt wieder das Verletzungspech zu. „Schon nach den ersten Trainingseinheiten mit der Mannschaft spürte ich ein Ziehen im Schambeinbereich“, sagt er. „Ich habe dann einige Wochen versucht, die Schmerzen zu ignorieren und habe weitertrainiert. Schließlich wurde dann eine Schambeinentzündung diagnostiziert.“

Cannizzaro sucht einen Arzt nach dem anderen auf, eine wirkliche Besserung stellt sich jedoch nicht ein. „Eine Schambeinentzündung ist die fieseste Verletzung, die ein Fußballer haben kann“, befindet er. „Du kannst geradeaus laufen, aber keine Drehungen machen. An einem Tag geht es Dir blendend, am nächsten Tag kannst Du Dich vor Schmerzen kaum bewegen.“ Wieder sollte er für mehr als ein Jahr ausfallen.

Der vom Verletzungspech geplagte Stürmer muss raus, raus aus diesem Teufelskreis von Verletzungen, raus aus Deutschland. Er geht nach Italien, konsultiert auch dort mehrere Ärzte und schließt sich der Equipe Romagna in Milano Marittima an, einer Einrichtung für vertragslose Fußballprofis, ähnlich der, die in Deutschland vom VdV organisiert wird. Dort trifft er unter anderem auf Gigi Orlandini, ehemals Profi bei AC und Inter Mailand und Siegtorschütze für Italien im U21-Europameisterschaftsfinale gegen Portugal 1994.

Auf der nächsten Seite: Die Rückkehr nach Deutschland – und die beste Phase der Karriere.

Im Sommer 2004 kehrt er nach Deutschland zurück. Die vielen Verletzungen haben auch mental ihre Spuren bei ihm hinterlassen. Andrzej Rudy, ehemaliger FC-Profi und damals Trainer des Bonner SC, muss ihn geradezu dazu überreden, an einem Trainingsspiel seines Clubs teilzunehmen. Dabei prallt ein Mitspieler mit seinem Knie mit voller Wucht gegen Cannizzaros Knie. „Ich habe gedacht, es ist alles kaputt“, erinnert er sich. Glücklicherweise gab das MRT am nächsten Tag Entwarnung, das Knie ist nur stark geprellt.

Trotzdem zweifelt er, denkt daran, sich eine berufliche Existenz aufzubauen, hat mit dem Profifußball eigentlich abgeschlossen. „Aus mir, dem selbstbewussten Torjäger, dem mit 17 die Türen zur großen Fußballbühne offenstanden, war ein an sich selbst zweifelnder 23-Jähriger geworden, der das Gefühl hatte, dass sein Körper den Anforderungen des Leistungssports Fußball nicht gewachsen war.“

Verschwunden in der Wolke aus Eisspray: “Wo ist Massimo?”

So benötigt ein Spielerberater viel Geduld und all seine Überredungskünste, um Cannizzaro davon zu überzeugen, ein Probetraining beim damaligen Tabellenzweiten der dritten Liga, KFC Uerdingen, wahrzunehmen. Vor dem Training nimmt ihn der Uerdinger Trainer Wolfgang Maes, den er noch aus der Jugend kennt, zur Seite und sagt ihm den Satz, der sein Selbstbewusstsein wieder etwas größer werden lässt: „Einer, der Tore geschossen hat, verlernt das nie!“ Das Training verläuft zufriedenstellend, der Verein gibt ihm einen Vertrag, Cannizzaro sieht auf einmal wieder einen kleinen Silberstreif am Horizont.

Er holt die körperlichen Defizite auf und bestreitet eine Reihe von Drittliga-Spielen, ist aber immer noch nicht schmerzfrei. „Wenn Wolfgang Maes eine Halbzeitbesprechung machte, fragte er immer nach kurzer Zeit: ‘Wo ist Massimo?‘ Derweil hatte ich mir nämlich jedes Mal das Eisspray genommen und damit volle Kanne auf meinen Schambeinbereich gehalten. Aufgrund der dadurch entstehenden Eisspray-Wolke konnte Maes mich dann nie sehen.“

In einem Spiel in Dortmund zieht sich der Uerdinger Stürmer einen Muskelfaserriss im Adduktorenbereich zu und fällt erneut wochenlang aus. Erst gegen Ende der Saison ist er wieder einsatzfähig, erzielt in den letzten vier Spielen sechs Tore, spielt aber stets mit Schmerzmitteln. Erst eine Leistenoperation bei Dr. Ulrike Muschaweck in München führt zu einer spürbaren Schmerzlinderung.

Eine “sportlich richtig gute Zeit” in Hamburg

Aufsteiger Kickers Emden nimmt ihn dann unter Vertrag, er bestreitet 32 Spiele in der Regionalliga Nord und erzielt trotz der sehr defensiven Ausrichtung der Mannschaft zwölf Tore. Endlich ist er schmerzfrei und kann sein Potential mehr als nur andeuten. So häufen sich dann im Sommer 2006 die Angebote für ihn, das des HSV, der einen Führungsspieler für die blutjunge zweite Mannschaft sucht, ist das beste.

Foto: Friedemann Vogel/Bongarts/Getty Images

Cannizzaro unterschreibt einen Zweijahresvertrag bei den Hanseaten und fühlt sich in der Alstermetropole pudelwohl. „Die Stadt Hamburg ist einfach traumhaft, ich habe dort viele Freundschaften geschlossen und sportlich eine richtig gute Zeit gehabt.“ Auch privat stimmt alles, nach der ersten Saison heiratet er seine langjährige Freundin Bina. Sie ziehen nun zusammen, die Zeiten der Wochenendbeziehung sind vorüber.

Die Stadt Hamburg ist einfach traumhaft, ich habe dort viele Freundschaften geschlossen und sportlich eine richtig gute Zeit gehabt.

Trainer Karsten Bäron steht ein starkes Team zur Verfügung; Sidney Sam, Eric-Maxim Choupo-Moting, Änis Ben-Hatira, Benny Feilhaber und Rouwen Hennings machten ihre ersten Schritte im Seniorenbereich, unterstützt durch den Führungsspieler Massimo Cannizzaro, der dazu noch in der ersten Saison mit 17 Toren Torschützenkönig der Regionalliga Nord wird. Seine Leistungen bleiben auch Trainer Thomas Doll nicht verborgen, der ihn am 11. November 2006 in den Profikader für das Heimspiel gegen Borussia Mönchengladbach beruft, ihn aber nicht einwechselt.

Auf der nächsten Seite: Das Glanzstück der Karriere gegen den FC Bayern München.

Im Sommer 2007 meldet sich der SC Freiburg in Person von Robin Dutt bei ihm, der mit ihm die Sturmreihe der Breisgauer verstärken möchte. „Der HSV ließ mich nicht gehen“, bedauert Cannizzaro noch heute. „Ich wollte unbedingt nach Freiburg, als spielerisch guter Mittelstürmer hätte ich dort gut hingepasst, aber für die Zweite des HSV ging es in der folgenden Saison um die Qualifikation für die eingleisige Dritte Liga, und da benötigte man ein möglichst starkes Team.“

In der zweiten Saison beim HSV verhindert ein Syndesmoseriss mehr als die 22 Einsätze in der Regionalliga; er erzielt aber mit seinen sieben Treffern mannschaftsintern die meisten Tore. Sein Vertrag läuft aus, Angebote kommen unter anderem auch aus dem Osten Deutschlands.

Massimo Cannizzaro und das beste Spiel seiner Karriere

Der Drittligist Rot-Weiß Erfurt verpflichtet ihn schließlich zur Saison 2008/2009 und stattet ihn mit einem Zweijahresvertrag aus. Im DFB-Pokal spielen die Erfurter in der ersten Hauptrunde gegen den deutschen Rekordmeister Bayern München. Es ist das Pflichtspiel-Debüt des neuen Trainers Jürgen Klinsmann, das Match wird live von der ARD übertragen. An diesem schönen Spätsommerabend spielt Massimo Cannizzaro im Trikot mit der Nummer 9 vor 24 500 Zuschauern im Steigerwaldstadion und Millionen vor den heimischen Fernsehern.

Er macht das Spiel seines Lebens. „In diesem Spiel habe ich gesehen, wie der Fußball für mich hätte sein können, wenn ich nicht so oft verletzt gewesen wäre“, schwärmt der ehemalige Fußballer noch heute, jedoch auch mit einer Spur Wehmut.  „Das Paradoxe dieses Sports ist ja, dass Du besser zurechtkommst, je höher Du spielst.“

In der Tat, Cannizzaros Pfostenschuss, mehrere von Torwart Michael Rensing vereitelte Großchancen wie auch sein Tor zum zwischenzeitlichen 1:1 in der 1.Halbzeit sowie sein Assist zum 3:3 durch Albert Bunjaku und eine große Chance in der 90. Spielminute, die das 4:4 bedeutet hätte, sprechen eine deutliche Sprache; die BILD-Zeitung gibt ihm die Note “1”.

Alleine schon die Torschützen der Bayern verdeutlichen, dass es keineswegs eine B-Mannschaft ist, mit der die die Bayern zu einem glücklichen 4:3-Sieg kommen: Philipp Lahm, Lukas Podolski, Miroslav Klose und Toni Kroos trafen für den Branchenprimus. Neben Cannizzaros Gegenspielern Lucio und van Buyten setzt Klinsmann dazu noch Zé Roberto, Mark van Bommel und Bastian Schweinsteiger ein.

Eine erneute vertane Chance

Die Zeitung “Welt” schreibt am nächsten Tag: „Im zweiten Abschnitt ging es dann drunter und drüber. Die Münchner verloren völlig ihre Linie und gewannen trotz der erneuten Führung durch Klose keine Kontrolle mehr über die Partie. Auch nach dem 3:4 durch Kroos, der nach einer tollen Parade von Orlishausen zur Stelle war, gaben die tapferen Erfurter nicht auf und wurden von ihren Fans gefeiert.“

Foto: Enrico Radloff/Bongarts/Getty Images for DFB

Auch in der Liga läuft es für Cannizzaro gut; die neun Tore, die er in der Hinrunde erzielt, bescheren ihm einen Spitzenplatz in der Torjäger-Liste der Dritten Liga und rufen in der Winterpause einige Interessenten auf den Plan. Der Trainer des damaligen Zweitligisten TuS Koblenz, Uwe Rapolder, unterbreitet ihm ein verlockendes Angebot, doch Rot-Weiß Erfurt lässt ihn nicht ziehen.

„Der damalige Manager sagte mir, dass mein Sturmpartner Albert Bunjaku, der nur noch bis Sommer Vertrag hatte, im Winter zum 1.FC Nürnberg wechseln werde und dies die letzte Möglichkeit für Erfurt sei, eine Transferentschädigung zu erhalten“, sagt der damals Umworbene. „Mein Vertrag dagegen lief noch 18 Monate, und der Verein wollte nicht beide Torjäger zur gleichen Zeit verlieren.“

Über Kiel und Koblenz zurück nach Köln

Wieder ist eine Chance, bei einem höherklassigen Verein zu spielen, vertan. Cannizzaro bleibt in Erfurt, muss bleiben; die Rückrunde verläuft – ohne seinen Sturmpartner Bunjaku – eher durchwachsen. Trainer Karsten Baumann wird durch Rainer Hörgl abgelöst. In der Winterpause meldet sich der Ligakonkurrent Holstein Kiel bei ihm, er unterschreibt für zweieinhalb Jahre dort.

„Unter Trainer Christian Wück hatten wir eigentlich eine gute Truppe beisammen“, befindet Cannizzaro. „Trotzdem sind wir am Ende der Saison abgestiegen. Das Problem war, dass mein Vertrag nur für die dritte Liga galt“.

Inzwischen in der dritten Liga spielend, meldet sich im Sommer erneut die TuS Koblenz bei ihm und verpflichtet ihn für ein Jahr. Die Saison beginnt gut, im DFB-Pokal besiegt das von Petrik Sander trainierte Team in den ersten beiden Runden Fortuna Düsseldorf und Hertha BSC, bevor der 1. FC Kaiserslautern in der 3. Runde die Endstation bedeutet. Im November 2010 reißt sich Massimo Cannizzaro dann im Training die Achillessehne.

Foto: Boris Streubel/Bongarts/Getty Images

„Das war im negativen Sinne das Tüpfelchen auf dem I“, sagt Cannizzaro. „Es war kein glatter Riss, die Achillessehne war zerfetzt. Ich wusste instinktiv, das könnte es gewesen sein.“ Es sollte 22 Monate dauern, bevor er wieder ein Spiel bestreiten kann. Er erinnert sich: „Jeden Tag war ich für mehrere Stunden in der Reha, jeden Tag, und das Woche für Woche, Monat für Monat, und immer wieder dieselben Übungen und dieselben Anwendungen. Daran hat man dann irgendwann auch mental zu knabbern.“

“Ein Traineramt ist nichts für mich”

Sein ehemaliger Co-Trainer in Koblenz, Uwe Koschinat, der inzwischen Trainer bei Fortuna Köln ist, holt ihn im Sommer 2012 zum Südstadt-Club. Cannizzaro trainiert eisern, um für die neue Saison in der Regionalliga West fit zu werden. Der Club hat Ambitionen, möchte unbedingt den Aufstieg in die Dritte Liga schaffen. Dazu brauchen sie einen Torjäger, einen „Knipser“, wie Massimo Cannizzaro es war. „Ich hätte nicht zur Fortuna gehen sollen“, räumt dieser heute ein. „Die Leute bei der Fortuna, vor allem die Fans, haben gedacht: ‘Ah, der Cannizzaro, der schießt jetzt Tore wie am Fließband für uns‘. Aber ich war nicht mehr der Spieler, der ich mal war.“

Er absolviert noch 15 Spiele in dieser Saison, schießt drei Tore. Ohne Schmerzmittel kann er nicht auflaufen, die Achillessehne schmerzt zu sehr. Er beendet seine Karriere und – er hat inzwischen die nötigen Trainerlizenzen erworben – wird in der Saison 2013/2014 Koschinats Co-Trainer. „Dieses Jahr war sehr wichtig für mich“, sagt Cannizzaro. „Ich habe viel nachgedacht und dabei erkannt, dass ein Traineramt im Profibereich nichts für mich ist. Ein solcher Job ist zwangsläufig mit vielen Ortswechseln verbunden, ich aber wollte nicht mehr von einem Ende Deutschlands zum anderen ziehen, wollte mit meiner Frau und meinen Kindern zusammen sein.“ Im Sommer 2014 verlässt er Fortuna Köln.

Auf der nächsten Seite: Die Zeit nach der Karriere.

Auch nach seiner aktiven Karriere bleibt der Fußball ein wichtiger Teil seines Lebens. Er führt mit dem ehemaligen Kölner Profi Lukas Sinkiewicz beim SV Lövenich/Widdersdorf und in der Eifel Fußball-Feriencamps für Kinder und Jugendliche durch. Als Spielerberater ist er fast jedes Wochenende auf den Fußballfeldern des Westens zu finden, um die von ihm betreuten Spieler zu begleiten. Hat er einmal an einem Wochenende keine Termine und auch keine Schmerzen, spielt er für die Traditionself des 1. FC Köln unter Teammanager Stephan Engels und trifft dort auf viele Weggefährten wie Colin Bell, Karsten Baumann und Alexander Voigt.

„Aufgrund meiner vielen Verletzungen geht es nur mit angezogener Handbremse“, sagt der nun ehemalige Profi. „Und trotzdem komme ich oft drei Tage hinterher kaum die Treppe ʻrunter. Meine Frau sagt oft, ich solle mir das nicht mehr antun.“ Ein Grinsen huscht über sein Gesicht: „Mit Fußball geht nicht, aber ohne geht auch nicht!“

Eine neue Trainingsmethode als “Baby”

Sein „Baby“, wie er es nennt, ist die „1vs1 Life Soccer Academy“, die er mit italienischen Partnern ins Leben gerufen hat. „1vs1 ist eine innovative Trainingsmethode zur möglichst realitätsgetreuen Vermittlung und Einübung grundlegender technischer Fertigkeiten wie An- und Mitnahme des Balles, Torschuss und Passspiel“, erläutert Cannizzaro.

„Zentraler Bestandteil ist die Arbeit mit der Ginga-Wall, einer hinsichtlich unterschiedlicher Neigungswinkel verstellbaren und transportablen Trainingswand. Soll eine Trainingsgruppe zum Beispiel den sicheren Volleyschuss mit dem linken Fuss üben, schießen die einzelnen Spieler – in hohem Tempo hintereinander auf die Ginga-Wall zu laufend – den Ball auf die schräg nach oben gerichtete Trainingswand, woraufhin der Ball so nach oben abgelenkt wird, dass er die perfekte Höhe für einen Volleyschuss bekommt.“

Ich möchte mit dieser Methode etwas nachbilden, was es heute nicht mehr gibt – das Bolzplatz-Feeling.

Massimiliano Allegri, sechsfacher italienischer Meister mit dem AC Mailand und Juventus Turin und seit 2014 Trainer der „Vecchia Signora“, der „alten Dame“, war von der Präsentation der 1vs1-Methode so beeindruckt, dass er sie im Trainingsbetrieb aller Jugendmannschaften von Juventus verankern will. Einer der Repräsentanten der “1vs1 Life Soccer Academy” ist Dino Baggio, 60-facher italienischer Nationalspieler und UEFA-Pokalsieger mit Juventus Turin und dem AC Parma.

Bolzplatz-Feeling als Zielsetzung

„Ich möchte mit dieser Methode etwas nachbilden, was es heute nicht mehr gibt – das Bolzplatz-Feeling“, erklärt Cannizzaro. „Als ich ein kleiner Junge war, hat mich meine Mutter sonntags und in den Ferien über Tag nie gesehen; ich war auf dem Bolzplatz. Dort habe ich mich mit meinen Freunden Stunde um Stunde mit dem Ball beschäftigt, im Spiel die Techniken erlernt, die notwendig sind, um den Ball perfekt zu beherrschen, oder wie ich es ausdrücke: den Ball zu duzen.“

Mir kommen die Video-Ausschnitte des Pokalspiels der Erfurter gegen Bayern München in den Sinn. Die enge Ballführung, das sichere Verarbeiten auch von scharf geschossenen Flanken, das schnelle Zurückziehen des Balles, um den Gegenspieler ins Leere laufen zu lassen, ja, den Ball duzen, das konnte Massimo Cannizzaro.

„Die Kinder und Jugendlichen finden heute andere Bedingungen vor“,  fährt er fort. „Sie haben auch oft nicht die Zeit, sich den ganzen Tag mit dem Erlernen von Ballfertigkeiten zu beschäftigen. Also haben wir die Vermittlung dieser Techniken so verdichtet, dass sich die Trainierenden die ganze Trainingszeit von 90 Minuten hindurch aktiv mit dem Einüben dieser Fertigkeiten beschäftigen und so eine hohe Trainingsintensität erreicht wird.“ Auch aus der Bundesliga haben einige Vereine schon ihr Interesse an der Trainingsmethode und der Ginga-Wall bekundet.

“Gänsehaut bei der Hymne” – Cannizzaro über den 1. FC Köln

Dann frage ich ihn, wie sein heutiges Verhältnis zu seinem ersten großen Verein, dem 1. FC Köln ist. „Ich habe viele schöne Erinnerungen an die Zeit am Geißbockheim“, sagt er. „Es gibt wohl nur ganz wenige Vereine, die ihre Anhänger so emotionalisieren wie der FC.“ Er hält einen Moment inne. „Wissen Sie, wenn ich die Hymne höre und 50.000 Zuschauer im Stadion mitsingen, bekomme ich auch heute noch eine Gänsehaut!“

Das letzte Mal im Stadion war er beim ersten Spiel der Rückrunde gegen den VfL Bochum, das der FC mit 2:3 verlor. Bei den Fußballergebnissen vom Wochenende fragt er aber nicht zuerst, wie der FC gespielt hat. „Da will ich zuallererst wissen, wie meine Jungs gespielt haben!“, sagt er. Seine „Jungs“ sind seine Söhne Simone (10), der für die 1. Jugend-Fußball-Schule Köln aufläuft und Luca (7),  der in Widdersdorf beim SV Lövenich spielt und in der nächsten Saison seine Fußballschuhe für die U8 des 1. FC Köln schnüren wird.

Sein Rat an seine fußballbegeisterten Söhne

Haben sie das Talent des Vaters geerbt? „Simone ist Mittelstürmer und in manchen Aspekten seines Spiels erkenne ich mich wieder“, erklärt der Vater. „Auch er schießt viele Tore, weil er sehr gut spekuliert und im Strafraum mit seinen schnellen Bewegungen schwer zu verteidigen ist.“ Er macht eine kurze Pause. Da ist es wieder, das verschmitzte Lächeln. „Manchmal schimpfe ich mit ihm, weil er nicht aktiv genug am Spiel teilnimmt und mehr laufen müsste.“

Er sagt es nicht, aber ich glaube herauszuhören, dass die letztgenannten Eigenschaften auch auf den jungen Massimo zugetroffen haben. “Luca ist ein ganz anderer Spielertyp“, fährt Cannizzaro fort. „Er läuft viel, ist schnell und beackert das ganze Spielfeld; seine endgültige Position muss er natürlich noch finden, wahrscheinlich wird er später einmal irgendwo im Mittelfeld spielen.“

Würde er seinen Söhnen raten, den Weg ihres Vaters zu beschreiten und Fußballprofi zu werden? Cannizzaro überlegt einige Augenblicke lang. „Wenn sie die Leidenschaft haben, ihren Traum zu leben und bereit sind, dafür vieles zu opfern, dann ja“, sagt er schließlich. „Man muss allerdings als junger Spieler vorher wissen, dass trotz aller Opfer der Weg möglicherweise nicht höher als bis zur Bezirks- oder Landesliga führt.“

Die positiven und negativen Seiten des Geschäfts

Er hält kurz inne. „Andererseits kann der Fußball sehr viele Dinge vermitteln, die für die Persönlichkeitsentwicklung eines jungen Menschen wichtig sind“, sagt er. „Man lernt, Regeln einzuhalten, sich in eine Gemeinschaft einzubringen und auch sich durchzusetzen. Man entwickelt Biss, lernt mit Niederlagen und Rückschlägen umzugehen, erkennt die Bedeutsamkeit von Disziplin. Also: Wenn sie genug Talent und Leidenschaft haben, ja, dann sollen sie eine Fußballkarriere anstreben, und natürlich würde ich sie dabei unterstützen.“

Ich habe auch die andere Seite kennengelernt. Aber ich habe aufgehört zu hadern. Ich habe meinen Frieden damit gemacht!

Wie sieht die Bilanz seiner eigenen Fußballkarriere aus? „Ich habe dem Fußball unglaublich schöne Momente zu verdanken“, sagt er nach einigem Überlegen. „Ich habe tolle Menschen kennengelernt, viele Freundschaften geschlossen;  Zehntausende im Stadion haben meine Tore bejubelt und sich an meinen Tricks erfreut.“

Foto: privat

Er rührt in seinem Latte Macchiato. „Aber ich habe auch die andere Seite kennengelernt“, sagt er dann. „Die unendlich vielen Verletzungen, die Schmerzen, die endlosen Stunden auf dem Behandlungstisch und im Reha-Training, die Chancen, die mir genommen wurden, höherklassig zu spielen. Aber ich habe aufgehört zu hadern. Ich habe meinen Frieden damit gemacht!“

Positiv geblieben trotz Rückschlägen

Der letzte Satz schwingt noch nach, als wir uns verabschieden. Auf dem Weg zu meinem Auto schaue ich zur Glasfassade des kleinen Cafés zurück. Dort sitzt er immer noch, Massimo Cannizzaro, telefoniert, stimmt Termine ab, schmiedet Pläne. Er hat das Auf- und Ab eines Fußballerlebens erlebt wie kaum ein zweiter, hat aufgrund der zahlreichen Blessuren und der nicht zustande gekommenen Vertragsabschlüsse bei höherklassigen Vereinen kaum mehr als kurze Gastspiele auf der großen Bühne des Fußballs gegeben.

Aber er ist positiv geblieben und mir scheint, er hat seine Mitte gefunden, mit seiner Frau Bina, mit der er seit Schulzeiten zusammen ist und die ihn einen Perfektionisten nennt, und mit seinen Söhnen Luca und Simone, die vielleicht einmal fußballerisch in die Fußstapfen ihres Vaters treten werden. Wer weiß…

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