Steffen Baumgart hielt es irgendwann endgültig nicht mehr auf dem bequemen Flugzeugsitz, welcher in der Allianz-Arena die Trainerbänke schmückt. Dies ist keine Neuigkeit, es passiert dem 52-jährigen Rostocker häufiger, dass er wie ein Raubtier die Linie auf und abmarschiert und gefühlt mehr Kilometer abspult als seine Spieler auf dem Platz. Doch die Intensität, mit der er an der Seitenlinie in der zweiten Halbzeit im T-Shirt bei Temperaturen um den Gefrierpunkt durch die Coachingzone in München-Fröttmaning lief, seine Mannschaft coachte und konstant anfeuerte, diese Intensität war eine spürbar andere als noch letzten November.
Damals konstatierte Baumgart nach dem letzten Spiel der Herbstrunde beim 0:2 in Berlin halb im Scherz halb ernst gemeint, er sei wohl als Einziger noch halbwegs fit gewesen. Es war damals keine ganz falsche Diagnose, die Kölner pfiffen aus dem letzten Loch, vollkommen ausgelaugt vom Europa-Abenteuer und den drölfzig englischen Wochen zwischen August und November.
Dass der 1. FC Köln die Winterpause jedoch nicht nur dringend benötigte, sondern sie auch für sich nutzte, davon konnte sich Werder Bremen bereits am Wochenende überzeugen. Doch Auswärtsspiele in München beim großen bayerischen Überflieger sind für gewöhnliche Bundesligisten wie den 1. FC Köln immer besonders und gehen meist mit einer Niederlage einher, die, solange sie nicht allzu hoch ausfällt, beim Verlassen des Stadions bereits abgehakt ist.
Die erste Halbzeit zeigt wie es gehen kann
Auswärtssiege beim Branchenprimus in München sind auf der anderen Seite äußerst selten: Dem 1. FC Köln gelang dies seit dem Umzug des FCB vom Münchener Olympiastadion in die Allianz-Arena im Jahr 2005 nur ein einziges Mal. Es war der 21.02.2009, ein Karnevalssamstag, als Fabrice Ehret und der damalige Bundesliga-Debütant Daniel Brosinski eine zwischenzeitliche 2:0-Führung erzielten und das Team von Christoph Daum diesen Vorsprung am Ende über die Zeit retteten, der Anschlusstreffer von Daniel van Buyten kam damals in der 85. Minute zu spät.
Am Dienstagabend wäre es dann fast zum zweiten Mal so weit gewesen: Doch Joshua Kimmichs Traumtor aus 30 Metern in der 90. Minute zum 1:1-Ausgleich verhinderte nach der Kölner Führung von Ellyes Skhiri in der vierten Minute nach einem Eckball die kölsche Sensation in München und eine frühzeitige sowie spontane Karnevalsparty in Köln. Der späte Ausgleich war alles andere als unverdient, zu viele Chancen erarbeiteten sich die Bayern in der zweiten Halbzeit, zu kraftlos waren die Rheinländer am Ende, für zu wenig Entlastung konnten die Geißböcke sorgen und zu viele vielversprechende Konter konnten sie gerade in der ersten Halbzeit nicht in eine höhere Führung ummünzen. Und ja, dass frühe 1:0 war enorm hilfreich und wirkte Wunder für die Kölner, was Selbstbewusstsein und den Glauben an die dicke Überraschung anging.
Doch je länger sich das Spiel gerade in der ersten Halbzeit entfaltete, desto mehr bekam man ein Gefühl, wie Baumgart sich einen Auftritt in München im Vorfeld ausmalte und das der 1. FC Köln im Jahr 2023 wieder an die Saison 2021/22 anknüpfen könnte: Defensiv stand man den Bayern auf den Füßen und ließ die Starspieler in der Offensive nicht ins Rollen kommen, spielte seinerseits die eigenen Konter mit Plan und einstudierten Laufwegen aus und nutzte zudem einen Standard zur Führung. Natürlich hatten die Bayern ihre Chancen, doch die Pausenführung war nicht unverdient.
Bayern erdrückt den FC in der zweiten Halbzeit
Die Umstellungen von Bayerns Trainer Julian Nagelsmann zur zweiten Halbzeit inklusive der Einwechselungen des bärenstarken Kingsley Coman und Ryan Gravenberch sowie die Anweisungen, mit mehr Breite zu attackieren und die Verteidigung der Kölner auseinanderzuziehen, entfaltete dann schnell ihre Wirkung. Baumgart antizipierte zwar die Wechsel der Bayern und brachte mit Eric Martel und Dejan Ljubicic für Denis Huseinbasic und Mathias Olesen mehr Defensive aufs Spielfeld, doch die zweite Hälfte gehörte den Bayern, sie diktierten nun das Spiel, konnten enormen Druck ausüben, erstickten beinahe jede Kontersituation im Ansatz und zwangen die Kölner zunehmend zu Fehlern. “In der zweiten Halbzeit war es heute extrem schwer und wir hatten kaum noch Szenen, in denen wir hoch pressen konnten. Da haben uns die Bayern komplett erdrückt”, analysierte Rechtsverteidiger Benno Schmitz nach dem Spiel.
Dennoch dauerte es bis zur 90. Minute, ehe der Stadion-DJ auf den Knopf drücken und die Lichtershow in der Allianz-Arena aktivieren konnte und der Stadionsprecher jubelnd das 1:1 verkünden durfte. Die Kölner können es sich dennoch hoch anrechnen lassen, dass sie 90 Minuten lang mit allem, was sie hatten, verteidigten, bis auf wenige Ausnahmen konzentriert blieben und drauf bedacht waren, den Plan ihres Trainers bis zum Ende auszuführen. „Wir fahren zufrieden nach Hause“, stellte Trainer Baumgart fest, auch wenn der späte Ausgleich natürlich aufgrund des Zeitpunkts ärgerlich wäre. Florian Kainz ergänzte seinen Coach: “Wir haben ein gutes Spiel gemacht, aber der Ausgleich war natürlich verdient. Wir können trotzdem sehr zufrieden sein.“
Und dies vollkommen zu Recht. Denn wenn das Spiel in München eines zeigte, dann das man hinter das 7:1 gegen Werder Bremen kein Fragezeichen, sondern ein Ausrufezeichen setzen kann. Das Ergebnis vom Samstagabend war kein glückliches Ergebnis, sondern mit dem 1. FC Köln ist im Baumgartstil 2023 wieder zu rechnen. Hohe Laufleistung, mutig, aggressiv, leidenschaftlich und 90 Minuten bis zur Schmerzgrenze gehend. Und vor allem: An sich selber glaubend! Ende 2022 war dies gefühlt nicht immer der Fall, vor allem, wenn während eines Spiels nicht alles rund lief.
Am Wochenende geht es für die Kölner in Gelsenkirchen weiter, dort wartet mit dem Schalke 04 allerdings wieder eine ganz andere Aufgabe. Die Tabellenletzten aus dem Ruhrgebiet haben gerade einmal neun Punkte gesammelt und in 17 Spielen bereits 41 Gegentore kassiert! Eigentlich ein Pflichtsieg, wenn man mit dem Abstieg nichts zu tun haben möchte. Die Kölner solten die Favoriten gegen allerdings kratzende Schalker sein, die ihnen das Leben schwer machen werden. Mit dem neuen alten Glauben an sich selbst jedoch ist mit diesen Kölnern zu rechnen.