Wladimir Iljitsch Uljanow soll einst gesagt haben: „Eine Lüge, die oft genug erzählt wird, wird irgendwann zur Wahrheit.“ Dass diese Weisheit des Mannes, der unter dem Namen Lenin als Gründer der Sowjetunion in die Geschichtsbücher einging, auch heute noch ihre Gültigkeit besitzt, beweisen in der internationalen Politik nicht nur Donald Trump, diverse Brexit-Befürworter und hierzulande die AfD, sondern auch zahlreiche deutsche Sportjournalisten. Im Wiederholen von Unsinn und offensichtlich falschen Behauptungen spielen die Genannten natürlich nicht in einer Liga, aber sie folgen den gleichen Prinzipien. Was der AfD der manische Kampf gegen irgendeine angebliche Islamisierung ist, ist dem Sportjournalisten sein höhnisches Gerede über den dumpfen, naiven Kölner.
„Man kennt ja die Kölner. Nach zwei Siegen träumen die schon wieder von der Champions League“ – so die landläufige Meinung. Prägend für diese war zwar auch die Großmannssucht, die zahlreiche effzeh-Funktionäre in den letzten 25 Jahren an den Tag legten, egal ob Dietmar Artzinger-Bolten, Michael Meier oder Wolfgang Overath. Die journalistische Schleifung erfuhr die Weisheit jedoch durch einen Mann, der sie jahrelang zur besten Sportsendezeit verkündete, wenn er die Gelegenheit dazu bekam: Udo Latteks ständige Wiederholungen dieses Sprüchleins im „Doppelpass“ trugen maßgeblich dazu bei, dass sich das Klischee bei den Sportjournalisten festsetzte wie Klaus-Michael Kühne beim HSV.
[perfectpullquote align=”right” cite=”” link=”” color=”” class=”” size=””]Wie können die bloß gute Laune haben, obwohl die Realität ihnen eigentlich keinen Anlass dazu gibt? Diese Frage stellen sich alle, die bereitwillig die Klischees über träumende, größenwahnsinnige Kölner verbreiten, insgeheim wohl tatsächlich. [/perfectpullquote]Obwohl der „Doppelpass“ hauptsächlich dazu beiträgt, dass der IQ beim Zuschauen ob der zur Schau gestellten Dampfplauderei der Gäste massiv einbricht, erfüllt er für die Letztgenannten zwei wichtige Funktionen: Zum einen gibt er ihnen das Gefühl, gesellschaftlich wahrgenommen zu werden (und ganz, ganz wichtig zu sein), zum anderen bemühen sie sich aber auch jeweils um eigene Profilierung – meistens auf Kosten des ohnehin schon schmerzhaft geringen inhaltlichen Gehalts der Gespräche. Während aber jeder klar denkende Mensch bei den rhetorischen Überblendungen über die eigene Beschränktheit, wie sie etwa ein „Experte“ wie Olaf Thon ständig zum Besten gibt, grausend zusammenzuckt, offenbart die Sendung gut, auf welch flachem Niveau der Fußballjournalismus in diesem Land überwiegend durchs Wochenende segelt. Klischees werden nicht einmal als solche erkannt, sondern ausschließlich reproduziert; was dann auch zum Ursprungsthema zurückführt.
„Die Kölner“
Aber was steckt eigentlich hinter der Phrase „Man kennt ja die Kölner. Nach zwei Siegen träumen die schon wieder von der Champions League“? Der erste Satz gibt bereits Auskunft über eine grundsätzliche Einstellung. „Man kennt ja die Kölner“ (gerne auch: „ich kenn‘ ja die Kölner“) impliziert mehreres: dadurch, dass der Sprecher „die Kölner“ „kennt“, muss er sowieso Bescheid wissen, schließlich „kennt“ er sowohl effzeh-Fans, als auch den Rheinländer an sich. Beide feiern gerne und viel und obwohl sie eigentlich nicht genügend Gelegenheit dazu haben, tun sie es trotzdem. Meine Güte, was sind das nur für Naivlinge. In Berlin wird ein Flughafen nicht fertig gestellt? Versagen der öffentlichen Verwaltung? Die Kölner kennen das schon lange, Oper, U-Bahn und Stadtarchiv lassen grüßen. Firmen und Investoren werden von der Öffentlichkeit geschützt? In Köln hat die Clique um Josef Esch und Lothar Ruschmeier rund eine Milliarde Euro kassiert, mit freundlicher Unterstützung der Politik um Ex-Oberbürgermeister Fritz Schramma.
Wie können die bloß gute Laune haben, obwohl die Realität ihnen eigentlich keinen Anlass dazu gibt? Diese Frage stellen sich alle, die bereitwillig die Klischees über träumende, größenwahnsinnige Kölner verbreiten, insgeheim wohl tatsächlich. Die bundesweit verbreiteten preußisch-protestantischen Tugenden, wonach Arbeit Lebenszweck und Spaß etwas für naive Trottel ist, zeigen sich hier besonders stark. Wäre es nicht erst an der Zeit, Missstände zu beseitigen und erst im Anschluss gute Laune ob des Erledigten zu haben? Wie können diese Rheinländer sich dem allen Ernstes widersetzen, was fällt denen bloß ein?
Viele verstehen diese proklamierte Mentalität einfach nicht und wahrscheinlich sind sie auch neidisch, weil die Rheinländer, oder zumindest die weit verbreitete Vorstellung davon, einfach mehr Spaß im Leben haben als man selbst. Andere Eigenschaften über „die Kölner“ (wie beispielsweise die Bauernschläue, die ständige Konfliktbereitschaft, die provinziellen Umgangsformen, obwohl man sich als weltmännisch empfindet, die Fähigkeit über alles und jeden genau Bescheid zu wissen und das auch möglichst vielen Leuten mitzuteilen usw.) kommen in diesen Denkstrukturen nicht vor. Wer also „die Kölner“ kennt, entblößt sich selbst nur als der beschränkte, naive Phrasendrescher, den er glaubt, im „Kölner“ zu erkennen.
Sprachliche Desaster
Auch der zweite Teilsatz ist aufschlussreich: „Nach zwei Siegen träumen die schon wieder von der Champions League“ lautet er. Der Sprecher unterstellt hier einerseits pauschal einen flächendeckenden Größenwahn, der – der vorher dargelegten Logik folgend- genau zum naiven Rheinländer passt. Andererseits gibt es für den Größenwahn auch keinen ernstzunehmenden Anlass, denn zwei Siege in Folge bringen ja schließlich keine Europapokalteilnahme. Sie sind halt naiv und dumm, diese effzeh-Fans, diese Kölner, diese Rheinländer.
[perfectpullquote align=”left” cite=”” link=”” color=”” class=”” size=””]Das Motto der meisten effzeh-Fans lautet: Es sind noch 22 Punkte bis zum Klassenerhalt. Danach schauen wir weiter. Die Verantwortlichen des Vereins denken genauso.[/perfectpullquote]Vor allem ist es aber die Träumerei, die den Sprecher zu stören scheint. Er selbst ist also zum einen kein Träumer, denn er ist fest in der preußisch-tugendhaften Realität verwurzelt und weiß, dass Träumen einen nur von der Arbeit abhält. Träumen ist aber etwas, das Menschen vorübergehend Alltagsflucht und Abstand zur Gegenwart ermöglichen kann. Es ist etwas ganz normales und der Begriff sollte nicht leichtfertig abschätzend verwendet werden. Wer das dennoch tut, zumal in einem solch hohen Maße wie Sportjournalisten, beweist, dass er sowohl vom Träumen und zum anderen von angemessener Sprachnutzung nichts versteht.
Das schlichte Gesellschaftsbild, welches von der Presse dadurch impliziert und transportiert wird, ist von regionalabhängigen Klischees und Halbwahrheiten durchtrieft. Wieso schreibt man dem Rheinländer pauschalen Größenwahn zu, dem Hanseaten oder Schwaben aber kaufmännisches Denken? Beweisen die Entwicklungen der Vereine während der letzten Jahre nicht eher das komplette Gegenteil? Betonen die Verantwortlichen des effzeh nicht regelmäßig, dass die Anspruchshaltung im Umfeld völlig harmlos, die Euphorie hingegen fantastisch ist? Ist es demzufolge nicht völlig bescheuert, ständig Klischees zu wiederholen?
Größenwahn oder Wertschätzung?
Und trotzdem: Natürlich gibt es Fans, die von Europa träumen. Wieso auch nicht? Widerspricht bewusstes Träumen einem gesunden Realitätssinn? Warum sollte das Besingen einer Auswärtsfahrt nach Mailand nicht primär ein immenses Lob und enorme Wertschätzung für die Mannschaft darstellen, die die Fans durch ihre tollen Leistungen zum Träumen einlädt? Jeder, der in den letzten zwanzig Jahren mal „Deutscher Meister FC!“ mitgegrölt hat, weiß ganz genau, dass es selbstironisch und unernst gemeint ist. Es ist ein intellektuelles und fachliches Armutszeugnis, dass es tatsächlich noch viele „Experten“ oder Journalisten gibt, die diese Dimensionen nicht durchschauen. Welcher Fußballfan träumt denn nicht von sportlichen Erfolgen? Vermutlich sind es nur die Verlogenen unter ihnen.
Das Motto der meisten effzeh-Fans lautet: Es sind noch 22 Punkte bis zum Klassenerhalt. Danach schauen wir weiter. Die Verantwortlichen des Vereins denken genauso. Wenn die Fans darüber hinaus von mehr träumen, sollen sie es tun. Jedenfalls wesentlich eher, als sich das von Leuten vermiesen zu lassen, die weder Fans noch Sprache richtig einschätzen können. Abgesehen davon geben der Tabellenplatz, der Zusammenhalt in der Mannschaft und Anthony Modeste derzeit wirklich genügend Anlässe, um träumen zu können.