Sie haben den Relative Age Effect schon angesprochen. Um dem zu begegnen, haben sie in Ihrer Eigenschaft als DFB-Stützpunktkoordinator eine Quotenregelung eingeführt. Wie sah die genau aus?
In den Nachwuchsleistungszentren sieht man eine sehr auffällige Altersverteilung von Spielern, so waren zum damaligen Zeitpunkt deutlich über 70 Prozent der Spieler in der ersten Jahreshälfte geboren, die am Mittelrhein in den NLZ-Teams der U12 bis U15 spielten. Das sind natürlich talentierte Jungs, einige zweifellos hochtalentiert, die in ihrer körperlichen Entwicklung halt häufig schon weiter sind als andere Spieler ihres Jahrgangs. Der Schluss, den wir daraus gezogen haben, war der, dass wir gesagt haben, anstatt die zweite oder dritte Reihe der Frühentwickler zu fördern, hat es mehr Sinn, diejenigen Talente aufzufangen, die noch nicht in das Fördersystem der Nachwuchsleistungszentren gelangt sind, und ihnen im Stützpunkt die Möglichkeit zu geben, eine Förderung zu erfahren, die für ihren weiteren fußballerischen Entwicklungsweg hilfreich sein kann.
Mit anderen Worten: Da die frühgeborenen Frühentwickler vorrangig in den Nachwuchsleistungszentren zu finden sind, muss auf der Seite der spätgeborenen Spätentwickler noch einiges an Potenzial vorhanden sein. Deshalb die Quote, wohlwissend, dass Quotenregelungen immer nur Behelfslösungen sind, denn am Ende darf nicht die Quote entscheiden, sondern die individuelle Einschätzung eines Talents. Aber auch in den Stützpunkten haben wir gesehen, dass wir bei den dortigen Auswahlspielern einen extremen Relative Age Effect hatten. Daher haben wir den Lösungsansatz gewählt, dass ein Drittel der Spieler aus dem vierten Quartal eines Jahrgangs rekrutiert werden sollte und mindestens ein Fünftel aus dem dritten Quartal. Und da bleibt immer noch viel Platz für Frühgeborene und Frühentwickelte. Das war der Ansatz, und wenn ich das richtig überblicke, führt mein Nachfolger beim DFB, Mirko Schweikhard, den auch weiter fort.
Ist diese Idee der Quotenregelung vergleichbar mit den Schattenkadern, die es bei den Juniorennationalteams in Belgien gibt?
Die Dinge, die die Belgier schon vor vielen Jahren im Nachwuchsbereich eingeführt haben, haben für mich schon immer eine Vorbildfunktion. Ich weiß gar nicht, ob die Belgier das Schattenkader genannt haben, aber sie haben tatsächlich ab der U15 mehrere Ausbildungsgruppen für jeden Jahrgang ihrer U-Nationalteams gebildet, wo sie nach Früh-, Normal- und Spätentwicklern differenziert haben. Ich denke da zum Beispiel an Kevin de Bruyne, der meines Wissens in Perspektivkadern für Spätentwickler gefördert wurde, ehe er mit Einsetzen der körperlichen Reife einen gewaltigen und nachhaltigen Leistungssprung gemacht hat. Auf der anderen Seite erinnere mich an Spiele mit der Schalker Jugend gegen Lierse, deren Mittelstürmer der körperlich ungemein weitentwickelte und hochtalentierte Romelu Lukako war, der in diesem Team deutlich unterfordert schien, später in den belgischen U-Nationalteams jedoch auf ähnlich robuste Spieler traf.
“Die Belgier haben ab der U15 mehrere Ausbildungsgruppen für jeden Jahrgang gebildet, wo sie nach Früh-, Normal- und Spätentwicklern differenziert haben. Ich denke da zum Beispiel an Kevin de Bruyne, der meines Wissens in Perspektivkadern für Spätentwickler gefördert wurde, ehe er einen gewaltigen Leistungssprung gemacht hat.”
Sind die beiden genannten Spieler nicht auf unterschiedliche Weise Beispiele für die Sinnhaftigkeit eines auf biologische Reife ausgerichteten Förderkonzepts wie das des Bio-Bandings?
Das lässt sich gewiss nicht von der Hand weisen. Man kennt ja auch selber Spieler, auf die dies zutrifft. Ich habe immer Kerem Demirbay vor Augen, der jetzt in Leverkusen spielt. Den habe ich ein paar Jahre lang in der Schalker Jugend begleitet, wo er dann nach meinem Wechsel zum FC irgendwann mal abgegeben worden ist und über die Jugend des BVB, Wattenscheid und Dortmund II ganz viele Umwege gemacht hat, bevor er in der Bundesliga gelandet ist. Demirbay ist sicherlich ein Beispiel von vielen, wo es trotzdem schlussendlich gutgegangen ist. Ich glaube aber, dass es eine Dunkelziffer von vielen, vielen Talenten gibt, die aus dem System rausgefallen sind und dann nicht mehr den Weg zurückgefunden haben. Und das ist einfach schade, denn da geht uns viel an Talentpotenzial verloren.
Wenn man das einmal im großen Kontext sieht, dann glaube ich, dass wir mehr und mehr ein Problem damit bekommen, dass der Fußball im Freizeitverhalten vieler Kinder nicht mehr an erster, zweiter oder dritter Stelle steht. Bei einem 80-Millionen-Land wie dem unsrigen ist der Talentpool immer noch sehr groß, andererseits sind aber auch aufgrund der Unmenge an Freizeitalternativen so viele fußballspielende Kinder bei uns nicht mehr unterwegs. Deshalb sollten wir den Pool ordentlich nutzen und denjenigen, die den Weg in die Nachwuchsleistungszentren gefunden haben, Fördermaßnahmen zuteilwerden lassen, die ihrer Entwicklung entsprechen.
Das ist sicherlich auch der Grund, warum das Bio-Banding Einzug in das Nachwuchstraining beim 1. FC Köln gehalten hat. Organisatorisch haben Sie das so geregelt, dass aus den Teams der U13, 14 und 15 drei Gruppen gebildet wurden. Nach welchen Kriterien haben Sie diese Einteilung vorgenommen?
Nach biologischer Reife. Wir haben dazu die Mirwald-Formel mit der sogenannten PHV-Messung (PHV: Peak Height Velocity) benutzt, um zu ermitteln, welche Spieler sich vor dem Wachstumsspurt befinden, wer genau darin anzusiedeln ist und wer schon dahinter. Dazu haben wir die Spieler gewogen, gemessen und die Sitzhöhe sowie Beinlänge ermittelt. Auf der Grundlage der Messungen haben wir dann drei ungefähr homogene Gruppen gebildet in Bezug auf die biologische Reife der Spieler: die Gruppe P1 mit den Normalentwicklern aus der U13 und den Spätentwicklern aus der U14, die P2 mit Spielern aus allen drei Teams, Frühentwickler aus der U13, Normalentwickler der U14 sowie die Spätentwickler der U15 und schließlich die P3 mit den Frühentwicklern aus der U14 und den Normalentwicklern der U15.
Das hört sich jetzt alles so super an, bei der Evaluation ist aber für uns herausgekommen, dass nicht alles Gold ist, was glänzt. Eine Schwierigkeit ist zum Beispiel, dass es ein Motivationsproblem für die Spieler gibt, die in der U15 spielen, körperlich spät dran sind und dann in P2 eingestuft wurden und dort hauptsächlich mit U14, aber auch teilweise mit U13 Spielern trainieren. Diese Jungs fühlen sich herabgestuft. Natürlich haben wir den Spielern und auch ihren Eltern erklärt, was dahintersteckt, dass es um biologische Reife geht, und nicht etwa um eine Abwertung ihres fußballerischen Talents. Auch haben wir darauf hingewiesen, dass es eigentlich darum geht, ihnen noch einmal einen neuen Förderreiz zu vermitteln. Aber im Kopf des 15-Jährigen und vor allen Dingen in der Gruppe der 15-Jährigen kommt diese Zuordnung anders an, weil die Wahrnehmung die ist, dass da jemand mit den „Kleinen“ trainieren muss. Gerade bei dieser Problematik wäre es für mich interessant zu erfahren, wie Kevin de Bruyne das damals aufgenommen hat, als er als Spätberufener die diesbezügliche Förderung durchlaufen hat.
Bei denen, die hochgestuft werden, ist alles super, denn die dürfen ja mit den Älteren spielen, die haben eine ganz hohe Motivation. Das funktioniert manchmal aber auch umgekehrt. Wir haben zum Beispiel einen U14-Jungen, der trainiert mit vielen U13-Jungs in der P1 und der macht das überragend. Und da sehen wir auch, dass er nochmal ganz andere Aktionen hat, viel mehr Dribblings, viel mehr 1-gegen-1 Situationen. Das sind natürlich Entwicklungen, bei denen einem Trainer das Herz aufgeht.
Können Sie sagen, wie hoch die Anteile der Spieler in den jeweiligen Teams waren, die einer höheren oder niedrigeren Stufe zugeordnet worden sind?
Marc Dommer: Den größten Anteil machten die Normalentwickler aus. Danach kamen die Spätentwickler und schließlich die Frühentwickler, die den zahlenmäßig kleinsten Anteil einnahmen. Von den drei Gruppen war P2 die größte, weil hier die Normalentwickler aus der U14 auf die Spätentwickler aus der U15 und die Frühentwickler aus der U13 treffen.
Bio-Banding in den U13- bis U15-Teams des 1. FC Köln: Organisation und Trainingsinhalte