Schon seit Jahren werden auch auf dem Hintergrund steigender Transfersummen Konzepte erörtert, wie die Talentförderung im Nachwuchsfußball optimiert werden kann. Einen dieser innovativen Ansätze, das Bio-Banding, setzt das Nachwuchsleistungszentrum (NLZ) des 1. FC Köln seit Beginn dieser Saison einmal pro Woche im Training der Jahrgänge der U13 bis U15 um.
Wir trafen Marc Dommer, den sportlichen Leiter des Bereichs von U8 bis U14 im NLZ des 1. FC Köln, um mehr über diesen Trainingsansatz zu erfahren, über seine gegenwärtige Umsetzung, über erste Eindrücke, die die Verantwortlichen sammeln konnten, und über Zukunftsperspektiven, die dieser Ansatz eröffnen kann. Marc Dommer arbeitete von 1997 bis 2006 in der Nachwuchsabteilung von Schalke 04, kam dann zum 1. FC Köln, wo er unter anderem Leiter des Nachwuchs-Scouting war, bevor er von 2016 bis 2019 als Stützpunktkoordinator für den DFB tätig war. Seit 2019 verantwortet er den Grund- und Aufbaubereich im NLZ der Geißböcke.
effzeh.com: Seit Beginn dieser Saison gibt es eine Neuerung im NLZ des 1. FC Köln – das Bio-Banding. Können Sie die Grundidee dieses Trainingsansatzes kurz skizzieren und erläutern, wie es zu dessen Einbindung in die Trainingsarbeit der Teams von der U13 bis zur U15 kam?
Marc Dommer: Zunächst einmal glaube ich, dass man ein Grundproblem skizzieren muss. Wie der gesamte Nachwuchsleistungssport haben auch wir seit Jahren mit dem Relative Age Effect zu kämpfen. Das heißt: Wir haben deutlich überproportional viele frühgeborene Aktive in unserer Förderung, deren Geburtsdatum in der ersten Jahreshälfte liegt und die häufig frühentwickelt sind. Das hat damit zu tun, dass diese Spieler natürlich eher auffallen, weil sie aktuell leistungsstärker sind und sich vielleicht schon mehr durchsetzen können als Spätentwickler des gleichen Jahrganges, deren Geburtsdatum häufig zwischen Juli und Dezember liegt. In den Nachwuchsleistungszentren liegt der Anteil der frühgeborenen Spieler bei über 70 Prozent, das kann kein Zufall sein. Wenn man sich die Gesamtpopulation in Deutschland anschaut, dann findet man annähernd gleichviele früh, mitten und spät im Jahr geborene Menschen, das heißt: Bei der bisherigen Konzentration auf frühentwickelte Spieler geht uns wahrscheinlich ein großer Teil an Talentpotenzial durch die Lappen.
Marc Dommer, sportlicher Leiter U8 – U14 im NLZ des 1. FC Köln (Foto: Thomas Fähnrich/1. FC Köln)
Der andere Aspekt ist, dass man sich überlegen muss, ob die Spätentwickler, aber auch die Frühentwickler, die wir im System haben, wirklich optimal gefördert werden können, wenn wir sie immer miteinander spielen lassen. Weil ein Spätentwickler, der sich noch nicht so durchsetzen kann, möglicherweise weniger Selbstbewusstsein entwickelt, seltener in 1-gegen-1-Situationen geht, seltener überhaupt Ballaktionen und vor allem auch gegnerüberwindende Schlüsselaktionen hat. Aber auch der Frühentwickler, der körperlich stets überlegen ist und der sich auf diese Überlegenheit verlassen kann, erfährt möglicherweise keine optimale Förderung, weil er nicht gezwungen sein wird, technisch besonders sauber zu agieren oder taktisch gute Lösungen zu finden. Das war das Ausgangsproblem, das wir durch diesen Ansatz zu lösen versuchen.
Inwieweit kann Bio-Banding hier den Relative Age Effect zähmen?
Das Bio-Banding ist in den letzten Jahren in der Sportwissenschaft immer mehr zum Thema geworden, etwa in England, wo es schon eine ganze Reihe an Pilotprojekten gibt, in Belgien und auch die Schweizer sind in diesem Bereich schon sehr weit. Der Ansatz beruht darauf, dass es mit relativ einfachen Mitteln möglich ist, das biologische Alter eines Jugendlichen zu bestimmen und dies seinem kalendarischen Alter gegenüberzustellen. Um die Tragweite dieses Problems zu verdeutlichen: In der Pubertät, dem Entwicklungsbereich, über den wir hier sprechen, kann es einen Unterschied von bis zu fünf Jahren geben zwischen dem biologischen und dem kalendarischen Alter.
Bei der Bestimmung des biologischen Alters verlassen wir uns jedoch nicht nur auf die Messdaten. Die Einschätzung von erfahrenen Trainern, die alleine schon durch den Augenschein erste Erkenntnisse über die biologische Reife eines Spielers gewinnen können, sind hier ebenfalls hilfreich. Kombiniert man dann Messdaten und Trainereinschätzungen, ergibt das eine hohe Aussagekraft hinsichtlich der Frage, wann bei einem Jugendlichen der Entwicklungsspurt einsetzt in Bezug auf die biologische Reife. Und die Konsequenz daraus, und das ist das Entscheidende, ist dann die, dass man Spieler ähnlicher biologischer Reife zusammenbringt, die kalendarisch nicht selten unterschiedlichen Jahrgängen angehören.
“Die Grundidee dieses Ansatzes ist, Talenteinschätzung weiter zu präzisieren, aber auch Talentförderung zu verbessern.”
Und da greift die Grundidee dieses Ansatzes, die darauf abzielt, Talenteinschätzung weiter zu präzisieren, aber auch Talentförderung zu verbessern. Und weil die unterschiedlichen Wachstumszustände in den Pubertätsaltersstufen ein besonders großes Thema sind, haben wir die Teams der U13 bis U15 in Betracht gezogen. Im Athletiktraining dieser Teams nutzen wir das Bio-Banding schon seit einigen Jahren, weil man gerade im körperlichen Bereich besonders darauf achten muss, dass man Spieler nicht überlastet. Mit Beginn der aktuellen Saison haben wir das ausgeweitet auf das spielorientierte Fußballtraining. Und dort sammeln wir momentan Eindrücke und Erfahrungen, um abschätzen zu können, inwieweit wir den genannten Problemen mit diesem Ansatz begegnen können.
Der Relative Age Effect – Quotenregelung und Schattenkader als bisherige Lösungsversuche