Wenn am Sonntagmittag der 1. FC Köln beim FC St. Pauli antritt, ist es wie immer ein bisschen mehr als nur das Duell zwischen dem aktuellen Tabellenersten und -sechsten der laufenden Zweitligasaison. National wie international ist der Stadtteilverein aus Hamburg nämlich die Projektionsfläche für diejenigen, die dem modernen Fußball und seinen Entwicklungen kritisch gegenüberstehen.
Denn wie sonst ist es zu erklären, dass jedes zweite Wochenende Hunderte Fans aus Großbritannien und Skandinavien den Weg nach Hamburg antreten, auf der Suche nach dem wahren Fußballerlebnis? Warum gilt St. Pauli als Rückzugsort für Menschen, denen die Kommerzialisierung des Fußballs zu weit geht und die den Fußball als politisch betrachten?
Der Totenkopf als Aushängeschild
Auf den ersten Blick stimmen die Zutaten bei St. Pauli auf jeden Fall: eine politisch aktive linke Fanszene, aus der mittlerweile sogar Mitglieder als Funktionäre beim Kiezclub arbeiten, dazu ein Stadion, das mit seinen vielen Stehplätzen und der unvergleichlichen Atmosphäre seinesgleichen sucht. Das Aushängeschild von St. Pauli ist der Totenkopf, der sich als Symbol für den Kampf gegen das Establishment bestens vermarkten lässt.
Als immer noch eingetragener Verein besitzen beim FC St. Pauli die Mitglieder die Macht, der Verein engagiert sich überdies in der Arbeit mit Geflüchteten im Stadtteil. Mit Andreas Rettig ist mittlerweile ein Geschäftsführer am Ruder, der sich bemerkenswert offen gegen den Konsens im deutschen Profifußball stellt, dass “schneller, höher, weiter” die einzig zu verfolgende Maxime ist.
Rettig kämpft für Erhalt von 50+1
Rettig, zwischen 2002 und 2005 Manager beim effzeh, kämpft leidenschaftlich und ehrlich für den Erhalt der 50+1-Regelung und macht sich damit bei seinen Kollegen in der Fußballbranche nicht unbedingt Freunde. Das dürfte sich vor allem dann zeigen, wenn Rettigs Engagement bei St. Pauli endet und er einen neuen Job sucht – nach seiner Tätigkeit als Geschäftsführer der DFL (zwischen 2013 und 2015) hat sich Rettig deutlicher zu den Themen Investoren-Einstiege, Gewinnmaximierung und Fankultur geäußert als der Großteil der Bundesliga-Funktionäre.
Der #fcsp unterstützt die Aktion #togetherforrescue und solidarisiert sich mit den Seenotrettermissionen! Kommt am Sonntag (2.9.) zur Großdemo der @SeebrueckeHH, die eine halbe Stunde nach #fcspkoe an der Südkurve vorbeiziehen wird.
pic.twitter.com/q4yfCO53Av — FC St. Pauli (@fcstpauli) August 30, 2018
Er unterstrich vor kurzem in einem Interview mit dem Tagesspiegel, dass die Kontrolle über das operative Geschäft bei einem Fußball-Bundesligisten immer bei einem Verein und nicht bei einer Einzelperson liegen sollte. Aus seiner reichhaltigen Erfahrung (er war zudem noch bei Leverkusen, Freiburg und Augsburg) kann er ganz gut beurteilen, wodurch sportlicher Erfolg entsteht: in erster Linie ist dafür das sportliche Management entscheidend und weniger die Größe des Geldbeutels. Rettigs Position umfasst auch, dass er sich im Gegenzug zu seinem ehemaligen Chef bei der DFL, Christian Seifert, nicht dafür ausspricht, der Premier League aus England und deren Ideen nahezu bedingungslos zu folgen. “Wir müssen nicht jeden Blödsinn mitmachen, der von der Insel kommt”, zitiert ihn der Tagesspiegel.
Rettigs Idee: Bundesliga als sozialste und nahbarste Liga
Gewiss, seine Funktion als Entscheidungsträger bei einem Zweitligisten versetzt ihn eher in die Lage dazu, so etwas zu äußern, weil er eben auch andere Ziele verfolgt als Christian Seifert – für diese beachtliche Offenheit hingegen kann die Öffentlichkeit ihm eigentlich nur danken, weil damit genau die richtigen Denkanstöße geliefert werden.
Und danach sagte er sogar noch etwas, was in dieser Form im deutschen Fußballbetrieb bislang noch nie von einem führenden Manager zu hören war: Rettig sprach sich dafür aus, dass die Bundesliga die sozialste und nahbarste Liga der Welt sein sollte.
Auf der nächsten Seite: Anhänger, Stadion – und ein Dilemma
Bei den Anhängern von St. Pauli, die sich selbst definiert in einer politischen Fanszene organisieren, fallen solche Äußerungen natürlich auf fruchtbaren Boden. Das Spannungsfeld zwischen Ultra-Subkultur und linker Maxime wird beispielsweise bei der Gruppierung “Ultra St. Pauli” gelebt. Neben dem Support der eigenen Mannschaft geht es für diese Gruppe auch darum, “einen linken Anspruch in die Praxis umzusetzen, Diskriminierungsformen, wie sie im Fußballstadion alltäglich sind, nicht hinzunehmen: Gegen Rassismus, Sexismus und Homophobie aktiv vorzugehen, sowie antifaschistisches Engagement auch außerhalb des Stadions zu zeigen.”
Stadion am Millerntor: Sensibel ausgebaut – mit Stehplätzen
Nicht zuletzt aufgrund dieser Politisierung war St. Pauli der erste Verein in Deutschland, der sich klar gegen Sexismus und Rassismus positionierte und dies auch in seine Stadionordnung aufnahm. Das “Millerntor” genießt den Ruf eines besonderen Stadions in Deutschland, was einerseits an seiner Verwurzelung im Stadtteil, andererseits aber auch an seiner einzigartigen Stimmung liegt.
Mit mehr als 16.000 Stehplätzen hat man sich auch nach dem graduellen und sehr sensibel vorgenommenen Ausbau den Charakter bewahrt und somit auf Mehreinnahmen verzichtet – in dem Wissen, dass die eigene Fanszene das wohl nicht verziehen hätte. Ein großer Vorteil ist auch, dass das Stadion dem Verein gehört, damit hat man vielen Mitbewerbern auch etwas voraus.
Foto: Stuart Franklin/Bongarts/Getty Images
Apropos Fanszene: Diese greift mittlerweile sogar in das operative Geschäft ein, denn nahezu alle wichtigen Positionen sind von Leuten besetzt, die vor dieser Tätigkeit bereits Fan von St. Pauli waren. Sei es im Aufsichtsrat, im Präsidium, im Bereich Sicherheit oder Finanzen – für die wichtigen Rollen im Verein konnte bislang immer jemand mit Fansozialisation gefunden werden. Gerade deswegen, so beschreibt es Christoph Ruf in einem Kapitel über St. Pauli in seinem Buch “Fieberwahn”, sei der Kiezclub so erfolgreich. Denn neben der Außendarstellung und ja, auch ein wenig der Folklore, funktioniere der Verein vernünftig.
Auch St. Pauli ist kein Paradies
Im Jahr 2018 kann dies in der 2. Bundesliga jedoch nicht funktionieren, wenn die wirtschaftlichen Kennzahlen nicht stimmen. Bei St. Pauli ist das jedenfalls nicht der Fall, denn seit Jahren wird regelmäßig Gewinn erwirtschaftet. Auch die Eigenkapitalquote ist erstaunlich hoch. Und dennoch: Auch bei St. Pauli sind die Zustände weniger paradiesisch, als man sich es vorstellen mag.
Denn gerade im Bereich Merchandise ist von der antikapitalistischen Stimmung wenig zu spüren. Die eigens dafür gegründete GmbH erwirtschaftete 2015/2016 einen Umsatz in Höhe von acht Millionen Euro und lag damit auch Rang sechs aller Fußballvereine in Deutschland. Hier arbeitet man mit einem US-amerikanischen Sportartikelhersteller zusammen, der auch Jagd-Equipment liefert und mit Kevin Plank einen Boss hat, der Donald Trump großartig findet.
Darin verdeutlicht sich allerdings nur, dass der hehre Anspruch von St. Pauli, sich gegen den Turbokapitalismus zu richten, im Spannungsfeld zwischen Folklore und Marketing eigentlich nicht umsetzen lässt.
Das soll allerdings den Gesamteindruck nicht schmälern: Die Beteiligung der Fans ist außergewöhnlich hoch, dazu die soziale Komponente und das Einstehen für linke Werte. Bei aller berechtigten Kritik an St. Pauli kann man dementsprechend trotzdem den Hut vor diesem Verein ziehen, der sich selbst treu bleibt und den Kampf gegen Windmühlen (auch aus Köln) weiterführt.