Vier Jahre sind im Fußball eine lange Zeit. Der Rhythmus des europäischen Kontinentalturniers zeigt sehr deutlich, dass Maßnahmen auf Führungsebene erst auf lange Sicht greifen und der wirkliche sportliche Erfolg sich erst dann einstellt, wenn man kontinuierlich und vor allen Dingen mit demselben Personal an der Erfüllung einer Aufgabe arbeitet. Es ist wohl wenigen Bundesligisten gelungen, ihre sportliche Situation in dieser Zeitspanne so entscheidend zu verbessern wie dem einstigen Chaosklub aus Köln, der vor vier Jahren den Tiefpunkt der jüngeren Vereinsgeschichte erreicht hatte. Mittlerweile stellt der effzeh allerdings sogar eine echte Stütze der Nationalmannschaft, die sich anschickt, in Frankreich Europameister zu werden. Wer hätte gedacht, dass diese Stütze tatsächlich nicht Lukas Podolski heißt?
Vor vier Jahren sah alles noch etwas anders aus
Es mag einigen zu diesem Zeitpunkt, wenige Stunden vor Anpfiff des EM-Halbfinales zwischen Deutschland und Frankreich, sehr schwerfallen, sich an den Sommer 2012 und die letzte Europameisterschaft zu erinnern. Am Tag des EM-Halbfinales der deutschen Mannschaft in Warschau schwang sich ein gewisser Mario Balotelli zum Matchwinner auf, seine Jubelpose wurde zu einem der legendärsten Bilder der EM. Im Kader der deutschen Nationalmannschaft standen tatsächlich Spieler wie Holger Badstuber oder Marco Reus, die seither fast durchgängig verletzt waren, Philipp Lahm hatte zu dieser Zeit noch das Monopol auf die Linksverteidigerposition inne, die ihm nicht einmal ansatzweise ein anderer Spieler streitig machen konnte und wollte. Sein ärgster Konkurrent war zu diesem Zeitpunkt noch Marcel Schmelzer, der gerade zum zweiten Mal in Folge mit dem Vollgas-BVB Deutscher Meister geworden war. Der einzige Spieler mit effzeh-Bezug, wobei das Wort “Bezug” etwas untertrieben scheint, war zu jener Zeit der ewige Lukas Podolski, der gerade den dritten Abstieg mit seinem Herzensklub verkraften musste und seinen Jugendverein zum zweiten Mal verließ, dieses Mal in Richtung London. Der folgerichtige Abstieg einer planlosen Mannschaft, die wochenlang zusehends dem Abstieg entgegentaumelte, wurde durch die schwarzen Rauchwolken überschattet, die sich nach Abpfiff über die Südkurve legten und den Abstieg des effzeh symbolträchtig untermalten. Im Sommer 2012 war es gewiss nicht leicht oder gar angenehm, Fan des effzeh zu sein. Neben Podolski verließen mit Michael Rensing, Milivoje Novakovic und Petit weitere Stützen den Verein, der den Weg der sportlichen Rekonsolidierung fortan im Unterhaus mit neuen, jungen Kräften angehen wollte. Das Bild des immer etwas unruhigen, teilweise chaotischen Vereins blieb in der öffentlichen Wahrnehmung ebenfalls haften und sorgte nicht unbedingt dafür, dass man stolz darauf sein konnte, Fan dieses Vereins zu sein.
Hector als exemplarisches Bild des Kölner Aufschwungs
Den Neustart in der zweiten Liga vollzog der effzeh unter der Leitung des neuen Cheftrainers Holger Stanislawski, der die gewiss nicht einfache Aufgabe des zeitigen Wiederaufstiegs erfüllen sollte. Mit ihm stießen unter anderem Matthias Lehmann, Anthony Ujah, Dominic Maroh und Kevin Wimmer zur Mannschaft, die den Verein über die kommenden Jahre prägen und sich zu absoluten Leistungsträgern aufschwingen sollten. Der junge Timo Horn, seit 2002 im Verein, wurde neuer Torwart, mit Jonas Hector wurde ein weiteres vielversprechendes Talent aus der eigenen zweiten Mannschaft in den Profikader gezogen, der knappe vier Jahre später ganz Fußball-Deutschland in einen Freudentaumel stoßen sollte. Ohne die Leistungen der anderen Spieler in Abrede zu stellen: für die jüngste Entwicklung des effzeh steht Jonas Hector als Sinnbild.
Nach 61 Spielen und fünf Toren im Trikot der jungen Geißböcke in der Regionalliga West kam Hector in seiner ersten Profisaison auf 24 Einsätze – und das, obwohl er nie ein Jugendleistungszentrum durchlaufen und bis vor wenigen Jahren noch auf saarländischen Ascheplätzen zum Halbraumdribbling angesetzt hatte. Diese Erfahrungen aus der Verbandsliga ließen Hector bodenständig bleiben, nach der erstmaligen Berufung in den Kader durch Stanislawski brauchte er logischerweise einen gewissen Moment, um sich an die Ansprüche des Profifußballs zu gewöhnen.
Seine ersten Einsätze fuhr Hector dann tatsächlich noch im defensiven Mittelfeld (darunter ein 0:2 im ersten Spiel in Aue, es waren tatsächlich triste Zeiten damals in Müngersdorf) und rotierte durchaus häufig zwischen Ersatzbank und Startelf, bevor er dann am 13. Spieltag der Saison 2012/2013 in einem 0:0 (auch in der Höhe verdient) gegen den MSV Duisburg seine Berufung als Linksverteidiger finden sollte. Diese gab er beim effzeh nicht mehr ab, der Wiederaufstieg 2014 und die ersten beiden gelungenen Jahre in der Bundesliga machten aus ihm einen gestandenen Bundesligaspieler und aus dem effzeh einen ernstzunehmenden Verein. Zusammen mit der sportlichen Leitung und anderen Leistungsträgern arbeitete man hart und seriös an der Umsetzung der Ziele, die sich fast zur Gänze auch eingestellt haben – Hectors Nominierung in die Nationalelf war lediglich eine folgerichtige Konsequenz dieser Entwicklung.
Hector und Podolski – zwei unterschiedliche Typen
Deshalb versprühen haben die Spiele der Nationalmannschaft natürlich mittlerweile einen anderen Reiz für effzeh-Fans, wobei der Fokus nicht mehr einzig und allein auf Lukas Podolski liegt. Die Weltmarke LP10 tingelt aktuell durch die europäischen Ligen und sorgt für gute Laune bei der Nationalmannschaft, während die andere kölsche Ikone eher durch leise Töne und sportliche Leistungen auf sich aufmerksam macht. Dabei könnten die Unterschiede zwischen Podolski und Hector kaum größer sein: hier ein international bekannter, ehemaliger (oder?) Spieler von internationaler Klasse, der aus seiner Liebe zu seinem Heimatverein nie einen Hehl gemacht hat, bereits in vier europäischen Topligen unterwegs war und dort mehr oder weniger seine Qualitäten unter Beweis gestellt hat. Seine große internationale Bekanntheit rührt neben seinen unbestrittenen sportlichen Leistungen auch daher, dass Podolski es zeit seiner Karriere verstand, sich selbst und seine Liebe zur Stadt Köln angemessen zu vermarkten. Dazu gehören regelmäßige Posts auf Facebook, Instagram und Twitter, die Marke LP10 ist spätestens seit der WM 2014 bis in den entlegensten Winkel Brasiliens bekannt.
https://twitter.com/Podolski10/status/749363313147084801
Rosige Zeiten für alle effzeh-Fans
Auf der anderen Seite steht mit Jonas Hector ein bescheidener, bodenständiger Junge aus dem Saarland, dessen heimischer Dialekt mittlerweile unüberhörbar eine kölsche Färbung erhalten hat. Hector betreibt keine Vermarktungsmaschine unter dem Label JH14 und ist in keinem sozialen Netzwerk aktiv, er bleibt seinem Credo, dass private Dinge auch privat bleiben sollten, auch als Nationalspieler treu. Im hektischen und aufgeblasenen Fußballbetrieb gilt Hector damit ein wenig als Gegenentwurf: seine Interviews wenige Momente nach dem verwandelten Elfmeter gegen Italien, der einen viel zitierten Fußball-Fluch gegen die Squadra Azurra, zeugen von einem in sich ruhenden Charakter, dem der Rummel um die eigene Person fast schon etwas zu viel wird. Für die medialer Berichterstattung ist Hectors Story natürlich ein willkommener Narrativ: der No-Name aus der Mittelklasse-Mannschaft wird zum Retter der deutschen Nationalmannschaft, ohne jemals Champions League, Europa League oder gar um die Meisterschaft gespielt zu haben. Dass Hectors Leistungen auch das Interesse anderer, noch namhafterer Vereine nach sich ziehen, ist keine Überraschung – der Linksverteidiger gehört international sicherlich zu den Entdeckungen der Europameisterschaft und es wäre fast ein Wunder, wenn sich kein zahlungskräftiger Verein mit ihm beschäftigen würde. Für den effzeh bedeutet dies natürlich auch gelungene und positive Publicity, was in den letzten Jahrzehnten beileibe nicht allzu häufig der Fall war. Aber wie dem auch sei: dass Hector Deutschland diesen einzigartigen Moment geschenkt hat, wird uns niemand mehr nehmen.
Vor dem Halbfinale gegen Frankreich, dem nächsten großen Spiel in Hectors Karriere, kann man als effzeh-Fan eigentlich nicht mehr verlangen. In vier Jahren hat sich fast alles zum Guten gewendet.