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Buch über die Nationalmannschaft: Anthologie über DFB-Geschichte(n)

Foto: ADRIAN DENNIS/AFP/Getty Images

Im Sommer 2017 war im deutschen Fußball auf Ebene des DFB eigentlich alles in Ordnung. Ein stark verjüngtes DFB-Team hatte in Russland den Confederations Cup gewonnen, während sich die U21 trotz eines personellen Aderlasses als neuer Europameister krönen konnte. In das ablaufende Jahr 2018 startete der DFB also mit einer großen Zuversicht und guten Aussichten: Bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Russland sollte nach dem Erfolg in Brasilien vier Jahre zuvor die Titeverteidigung gelingen. Ein hoch talentierter Kader, vergleichsweise wenig prominente Gegner in der Vorrunde und mit Joachim Löw ein bestätigter Weltmeister-Trainer an der Seitenlinie – die Vorzeichen standen positiv, nicht nur aus der Sicht von Michael Horeni.

Der Journalist arbeitet in der Sportredaktion der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung” und begleitet die Nationalmannschaft als verantwortlicher Redakteur seit dem Jahr 2000 – damals stand es um den deutschen Fußball aus rein sportlicher Sicht noch ein wenig kritischer, wenn man sich an das relativ klägliche Ausscheiden bei der EM in den Niederlanden und Belgien erinnert. Horeni gilt daher in der Branche als ausgewiesener Kenner des DFB-Teams, der das Aushängeschild des deutschen Fußballs vor der WM in Russland naturgemäß auch bei acht anderen großen Turnieren begleitete. In seinem Buch “Gebrauchsanweisung für die Fußballnationalmannschaft” zeichnet Horeni diese 17 Jahre nach und legt den Fokus dabei auf die fußballerische Moderne in Deutschland: Diese begann nach der EM 2004 und mit der Installation des damaligen Trainernovizen Jürgen Klinsmann.

Ein historischer Abriss über die Entwicklung des DFB

Der ehemalige Stürmer der Nationalmannschaft stellte den bis dahin antiquierten sportlichen Bereich im DFB auf den Kopf, zusammen mit seinen Mitstreitern Oliver Bierhoff (verantwortlich für die Vermarktung des DFB-Teams) und Löw (damals Co-Trainer) wurden die Weichen für die Zukunft gestellt. Durch die veränderte Herangehensweise in personeller und taktischer Natur folgte das “Sommermärchen”, welches zuletzt eher Bestandteil juristischer Auseinandersetzungen war. Davon abgesehen galt die Heim-WM im Jahr 2006 aber als Geburtsstunde des modernen deutschen Fußballs, geprägt durch die beiden Aushängeschilder Lukas Podolski und Bastian Schweinsteiger.

Foto: Alexander Hassenstein/Getty Images,

Die Entwicklung danach ist bekannt: man kam in schöner Regelmäßigkeit bis ins Halbfinale in den großen Turnieren und setzte dann 2014 zum großen Wurf bei der WM in Brasilien an. Nach diesem Erfolg, so ehrlich muss dann schon sein, lief es für das DFB-Team dann nicht mehr allzu rosig, was sich 2016 bei der Europameisterschaft in Frankreich schon andeutete – dies blieb auch Horeni nicht verborgen. In seinem Buch strickt der Journalist dann viele Geschichten rund um die Nationalmannschaft zusammen, die von der gesellschaftlichen Bedeutung dieses Fußballteams bis hin zu konkreten taktischen Veränderungen in der Löw-Ära reichen.

Angefangen bei seiner eigenen Zeit als Fan des DFB-Teams, in den 1970er und 1980er Jahren noch nicht als “Die Mannschaft” bezeichnet, erzählt Horeni, warum und unter welchen Bedingungen er sich als Fan und Reporter von der Nationalmannschaft entfremdete – und auch wieder Begeisterung für sie entwickelte. Mit Fokus auf dem aktuellen Jahrtausend vergleicht der Autor dabei auch die alte Spielergeneration (verkörpert durch Kahn und Ballack) mit den Recken des WM-Erfolgs in Brasilien (Schweinsteiger, Müller, Khedira, Neuer) und den Spielern mit Perspektive (Werner, ter Stegen).

Der sich anbahnende Misserfolg in Russland

Auch die Rolle von Joachim Löw als Architekt der sportlichen Entwicklung des DFB wird beleuchtet. Die langfristige Entwicklung zum dominanten Team, das gerne und gut Fußball spielt, vollzog sich unter dem Einfluss der spanischen Nationalmannschaft und der in der Bundesliga dominanten Teams aus München und Dortmund. Das Rad neu erfinden war dabei nicht Löws Aufgabe – er goss die verschiedenen Einflüsse zusammen und formte daraus ein Team, das in der Nacht von Rio sein Meisterstück machte. Der Text liest sich dabei flüssig und unterhaltsam, wobei bisweilen ein wenig zu stark die Bedeutung der Nationalmannschaft, einzelner Spieler, Spiele oder Szenen verklärt werden – zum Beispiel mit Sätzen wie “der Rest, der unglaubliche 7:1-Sieg gegen Brasilien und der WM-Titel, sind Fußball-Geschichte”.

Auf der nächsten Seite: Stukturen im DFB und unsere Meinung zum Buch.

Horeni beleuchtet aber auch die Strukturen im DFB. Er findet, dass Löws Macht “enorm” und “selbst im Fall eines krassen Misserfolgs wohl kaum möglich” sei, dass Löw entlassen würde – damit bewies er fast hellseherische Fähigkeiten, denn Löw wurde selbst nach der peinlichen “Analyse” des Scheiterns in Russland nicht von seinen Aufgaben entbunden. Die Entscheider, DFB-Präsident Grindel und Generalsekretär Curtius, seien “im Fußball zu schwach verwurzelt”, um mit Autorität über die Zukunft von Löw zu entscheiden. Zwar wackelte der Posten des Bundestrainers, das Weitermachen nach dem WM-Aus in Russland ist dennoch kein gutes Zeichen – und um diese Entwicklungen nachvollziehen zu können, eignet sich die Lektüre Horenis Buch.

Rassismus ist nicht erst seit der Özil-Affäre ein Thema

Dass Löw in all den Jahren nicht vor Kritik gefeit war, unterstreicht Horeni mit Rückgriff auf die beiden Halbfinal-Niederlagen bei den Europameisterschaften 2012 und 2016, als der Bundestrainer den siegreichen Mannschaften nicht gratulierte, bei unangenehmen Tätigkeiten gefilmt wurde oder zwischenzeitlich auch mal zu schnell mit dem Auto unterwegs war. Die wahre Stärke des Buchs liegt allerdings darin, dass Horeni aufzeigt, dass die problematischen Aspekte rund um die Nationalmannschaft bereits seit langer Zeit schwelten.

Die unsägliche Hymnen-Diskussion gab es bereits 2012, befeuert durch Politiker der CDU. Lange Zeit hielt sich auch hartnäckig der Begriff “Schwulencombo”, geprägt von einem Berater von Michael Ballack, rund um den DFB. Zur Erinnerung: Thomas Hitzlsperger ist bis dato der einzige ehemalige Nationalspieler, der offen zugab, homosexuell zu sein.

Vor dem Hintergrund der Özil-Affäre im Sommer (2018), die Horeni natürlich nicht vorhersehen konnte, werden aber die rassistischen Untertöne im Schlepptau der Diskussionen um die Nationalmannschaft immer deutlicher. “Offen rassistische Haltungen gegenüber einer multikulturellen Nationalmannschaft” waren laut Autor bereits 2010 offenkundig geworden. 2017 unternahm ein AfD-Fritze dann den nächsten Versuch, offenen Rassismus in Bezug auf Nationalspieler salonfähig zu machen.

Kaufen oder nicht?

Der Kauf des Buches lohnt sich für diejenigen Fußballfans, die sich dafür interessieren, wie ein Reporter über mehrere Jahre die Nationalmannschaft wahrnimmt – bahnbrechende Neuigkeiten finden sich nicht, was allerdings auch nicht dramatisch ist. Es gibt ansonsten nur ein Buch, das sich dem Themenkomplex in dieser Ausführlichkeit widmet: “Der vierte Stern: wie sich der deutsche Fußball neu erfand” von Raphael Honigstein. Wenn man mit nüchterner Distanz auf die Entwicklung des DFB schaut, erscheinen manche Passagen in Horenis Buch hingegen ein wenig zu positiv – als Überblickswerk und Anthologie der relevanten DFB-Geschichten seit 2004 eignet es sich dennoch gut.

Das Buch erschien in der Reihe “Gebrauchsanweisung für …” des Piper-Verlags und ist unter anderem für 15 € hier erhältlich.

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