Kevin Kühnert ein „Ultra“? Klingt erst einmal komisch, ist aber so. Es scheint sogar völlig offensichtlich zu sein! Der Juso-Chef hat sich in einem Interview mit der „Zeit“ erdreistet, unkonventionelle Antworten auf drängende Fragen unserer Zeit zu geben. Wie wollen wir damit umgehen, dass wenige sehr reich und viele immer ärmer werden? Wie weit darf der Kapitalismus gehen? Welche Möglichkeiten gibt, es die Situation zu verbessern? Und er hat es dabei gewagt, (gedanklich) Grenzen zu überschreiten.
Sicher ist: Wir werden hier nicht beantworten, ob die Gedanken des Juso-Vorsitzenden, der sich im Fußballkosmos bei Tennis Borussia Berlin engagiert, brillant oder dämlich sind. Dass er Ideen hat, wie man die Welt verbessern könnte, und sich traut, sie auszusprechen, ist dennoch ohne Einschränkung gut. Das muss so sein. Das sollten wir alle wollen. Nicht jede Idee mag sich schlussendlich als eine gute entpuppen. Aber um das herauszufinden, muss man wenigstens über sie diskutieren. Die Welt wurde schließlich noch nie durch diejenigen zu einer besseren, die am liebsten alles so lassen wollen, wie es ist.
Kühnert stellt “die Normalität” in Frage – Ultras auch
Das Problem: Kühnerts Ideen rütteln an “Grundsätzen”, stellen “die Normalität” in Frage und bedrohen schlichtweg auch das schnöde Vermögen derjenigen, die am Ende des Jahres sehr viel Geld kassieren, weil andere für sie für sehr viel weniger Geld gearbeitet haben. Nicht allzu selten wird der soziale Status dieser wohl betuchten Kreise auch noch quasi-monarchisch per Erbe von Generation zu Generation weitergereicht. Ob es die Firma mit ihren Erträgen oder Immobilien und die dazugehörigen Mieteinnahmen sind – der Rubel rollt. Das kann man unfair finden. Man kann sich auch Gedanken darüber machen, ob das die Art von Zusammenleben ist, die wir haben wollen und wo das hinführen könnte. Man darf das Ergebnis solcher Überlegungen dann auch durchaus aussprechen – nur gesellschaftlich geduldet wird das in Deutschland nicht so recht.
Bengalisches Feuer | Foto: Lukas Schulze/Bongarts/Getty Images
Ob Parteikollege, CDU-Senioren, Willi vom Wirtschaftsforum, TV-Investor oder sächsischer Ministerpräsident – offenbar ohne Kühnerts Worte wirklich gelesen oder verstanden zu haben, waren sich die Nadelstreifenanzüge und Business-Hemden Deutschlands schnell einig: “Kommunismus-Kevin” will die DDR 2.0 ausrufen, die Freiheit ist in Gefahr, Parteiausschluss, Verfassungsschutz, Stellungnahme, Hysterie, Stalin, China, Cuba – ach, wie wunderbar.
Rechtes Auge blind, linkes 250 Prozent Sehkraft
Es ist absurd. Gleichzeitig marschierten in Sachsen 500 stramme Faschos mit Trommeln, Fackeln, Uniform, Fahnen und Galgen – abgenickt von den Behörden – durch die Stadt. Rechtsdrehende Kartoffelkulturen, ganz schwer bekömmlich. Doch es sind nicht die Bilder aus Plauen, die Politik, Medien und Bevölkerung in diesen Tagen umtreiben. Der dritte Irrweg ist nicht das Thema der Seite-Eins-Kommentare und Aufmacher. Nein, es ist die vermeintliche linke Gefahr durch die recht harmlosen Gedankenspiele eines Jungsozialisten, der ausgesprochen hat, was in Jungsozialisten nun einmal drin stecken sollte. Deutschland: auf dem rechten Auge blind, auf dem linken 250 Prozent Sehkraft.
Was die Aufregung um Kühnert nun mit dem runden Leder zu tun hat? Fußball ist mehr als nur ein Sport. Es ist auch ein soziales Massenphänomen, das in einem gewissen Rahmen die gesellschaftlichen Verhältnisse abbilden kann. Die Abläufe und Reaktionen ähneln im vergleichsweise kleinen Fußballkosmos denen auf der großen gesellschaftspolitischen Bühne – so auch jetzt. Ob linke Gedanken eines Juso-Vorsitzenden oder aufmüpfige Ultras im Fußballstadion – die Größe der Bühne unterscheidet sich, die Hysterie im Umgang und der merkwürdige Fokus ebenfalls nicht.
Zum einen werden auch in der Fußballwelt rechtsextreme Auswüchse in manchen Fankurven weder von den Verbänden konsequent bekämpft und aus den Stadien gedrängt noch von den Medien mit allzu viel Aufmerksamkeit bedacht. In Chemnitz gedachten Fans kürzlich einem bekannten Rechtsextremen im Stadion, der Verein half mit. Die Konsequenzen vom Verband: Ein Witz. Die Berichterstattung: War da was?
Nächste Seite: Ultra-Kultur bezieht ebenfalls kollektivistische Positionen
Gleichzeitig diskutiert nach jeder Pyro-Show oder Prügelei unter Fußballfans das halbe Land fast genauso hysterisch über ein vermeintliches Gewaltproblem im Fußball wie in den letzten Tagen über Kühnerts Kühnheit. Innenminister-Konferenzen beraten über Fußballfans, Räume in Stadien werden durchsucht, Anzeigen aufgegeben, Sportmoderatoren präsentieren spontanes Codeswitching-Talent hin zum Vokabular der Kriegsreporter-Kollegen und der Boulevard überschlägt sich sowieso.
Zum anderen kann man die die Ultra-Kultur vom politischen Grundgedanken her durchaus eher im linken, kollektivistischen, weniger im konservativ, kapitalistischen Spektrum ansiedeln. Was (leider) keinesfalls heißt, dass Ultra automatisch politisch links bedeuten muss – auch rechte Fan-Gruppierungen fühlen sich der Ultra-Kultur durchaus zugehörig.
Dennoch bleibt das zentrale Anliegen der meisten Anhänger neben der bedingungslosen Unterstützung des Vereins auch zu verhindern, dass ebendieser zum bloßen Gegenstand wirtschaftlicher Interessen Dritter wird – ein Konzept demokratischer Kontrolle. Schließlich befinden wir uns hierbei innerhalb eines Vereins – einer Miniatur-Gesellschaft, in der es die „Arbeiter“ ebenso gibt wie die „Elite“. Nur dass die Mitglieder in einem Verein, also auch die Ultras, keine Lohnarbeiter sind, sondern sich freiwillig engagieren – und sogar draufzahlen. Die Gemeinsamkeit: Ohne diese Mitgliederbasis, ohne die Anhänger, wäre Fußball auch nicht mehr wert als eine Fabrik ohne Arbeiter. So gilt kurz gesprochen: Ultras sind gegen die kommerzielle Ausschlachtung dessen, was ihnen ein Zuhause bietet. Anderen geht das mit ihrer Wohnung so. Kevin Kühnert versteht das. Ob Ultras oder Juso-Chef: Beide stellen sich gegen eine bedingungslose “Weiter so”-Mentalität. Beide wollen einen Diskurs über progressive Möglichkeiten, die Situation zu verbessern.
Kapitalismus als Ersatzreligion
Während Ultras es also wagen, Grenzen zu überschreiten und „die da oben“ in den Club-Führungen und Verbänden zu provozieren, hat der Juso-Chef es gewagt, die Weltbilder derjenigen anzutasten, die dem Kapitalismus als Ersatzreligion fromm verfallen zu sein scheinen. Das bengalische Feuer der politischen Arena sozusagen. Wenngleich Pyrotechnik natürlich tatsächlich nicht erlaubt ist, politische Gedankenspiele aber schon, fühlen sich die Reaktionen dennoch so an, als hätte der Jungsozialist etwas gaaanz Verbotenes getan.
Die deutschen Fanszenen protestierten mit einem Aktionsspieltag gegen die Verbände | Foto: Oliver Hardt/Bongarts/Getty Images
Auch Kühnert hat Mitbestimmung und demokratische Entscheidungen über die Verwendung von Gewinnen im Sinn. Die Ablehnung von Investoren durch Ultra-Gruppen bei Fußballclubs hat den gleichen Gedanken: Die kollektivistische Struktur eines Vereins, der seinen Mitgliedern dient, zu erhalten und eine kommerzielle Struktur mit Gewinnabsichten einzelner Investoren zu verhindern.
Diesen Konflikt gibt es im Fußball schon länger. Doch über die Pervertierung von Vereinen hinzu Kapitalgesellschaften, die als Spielzeug einzelner Mäzene oder Konzerne dienen, wurde nie so intensiv diskutiert wie über ein bisschen Pyrotechnik in Händen junger Leute. Und genauso scheut die Republik offenbar die ernsthafte Diskussion darüber, ob unsere Version der sozialen Marktwirtschaft denn noch für alle zu einem fairen Ergebnis führt. Ob wir unsere Spielregeln ändern müssen, und wenn ja, wie.
Gut, dass es Ultras (so)wie Kevin Kühnert gibt
Dass die Rechtsextremen in Sachsen ironischerweise völlig unbehelligt mit Pyrotechnik durch die Stadt marschiert sind, während die Polizei anderswo wegen drei Bengalos oder einer beleidigenden Fahne in Fanblöcke einrückt und Fußballfans physisch attackiert, rundet den verqueren Eindruck, den die Republik derzeit bietet, da nur ab. Über “die Ultras“ in den Stadien und der politischen Arena sprechen die Ministerpräsidenten, über das sich erneut ausbreitende rechte Gedankengut im Land, viel zu hohe Mieten und die immer größer werdende Schere zwischen Arm und Reich lieber nicht. Und auch hier lässt sich die Analogie vollenden: Bei Regelbrüchen mit Pyrotechnik strafen die Fußball-Verbände hart ab, bei rechtsextremen Gedenkfeiern und Investoren, die die 50+1-Regel lächerlich machen, zeigen sie sich derweil ganz kulant.
Nein, Fußball ist ganz gewiss nicht unser Leben. Man sollte ihn nicht zu ernst nehmen. Aber Fußball ist eben auch nicht nur ein Spiel. Im Kleinen passiert oft das gleiche wie im Großen. Deutscher Fußball und das Land, sie gehen quasi Hand in Hand – nur die Richtung erscheint zweifelhaft. Gut, dass es Ultras (so)wie Kevin Kühnert gibt.