Es ist nicht genau geklärt, welchen Anteil Sönke Wortmanns Dokumentation “Deutschland – ein Sommermärchen” am mittlerweile fast mythisch verklärten deutschen WM-Sommer 2006 hatte. Während des Turniers begleitete der Filmemacher die deutsche Mannschaft auf ihrem Weg bis zum Ende – und einige Szenen brannten sich ins kollektive Gedächtnis. Der nur in Unterhose bekleidete Lukas Podolski, der im Hotelbett von seinem Spezi Bastian Schweinsteiger geweckt wird, die emotionalen Kabinenansprachen von Jürgen Klinsmann und der Blick aus dem Mannschaftsbus heraus auf die tausenden Fans, die entlang der Straßen ihren Fans zujubelten – der Film wurde im Kino von mehr als vier Millionen Leuten gesehen und war auch als DVD ein großer Erfolg.
Orientiert hatte sich Sönke Wortmann bei der Entwicklung der Idee und der späteren Durchführung bei einem Franzosen: Stéphane Meunier hatte 1998 bei der WM in Frankreich die Équipe Tricolore begleitet und ebenfalls einem Millionenpublikum bewegte Bilder aus dem Innersten der Mannschaft präsentiert. Der Film Les Yeux dans les Bleus gilt bis dato als grundlegendes Werk in der fußballerischen Moderne, wenn es darum geht, das Innenleben einer Mannschaft einzufangen und danach filmisch zu präsentieren. Nach dem französischen Erfolg 1998 und dem deutschen Sequel 2006 passierte in diesem Bereich allerdings lange Zeit wenig: erst im Jahr 2012 näherte man sich der Thematik wieder, dieses Mal in England. Mit der Dokumentarfilm-Serie Being: Liverpool erhielt man über sechs Folgen lang jeweils eine Stunde Einblick in die Sommervorbereitung der Reds.
Durch Streaming-Dienste sind Fußball-Dokus mittlerweile populär
Ein ähnliches Format gab es auch im Jahr 2014 über den TSV 1860 München, der von einem Pay-TV-Sender begleitet wurde. Es entstand eine vierteilige Dokumentations-Serie über die Blauen, die einen “unvergleichlichen Einblick hinter die Kulissen” versprach. 2015 wurde in Argentinien ein Film über die Boca Juniors ausgestrahlt, in dem man aus der Perspektive der Protagonisten des Klubs mehr über die Geschichte und den damaligen Zustand des mehrfachen argentinischen Meisters erfuhr. Dokumentationsserien über Fußball, die über die Dauer eines Films hinaus Inhalte präsentierten, gab es allerdings zum damaligen Zeitpunkt nur ganz wenige. In diesem Sommer veröffentlichte TF1 in Frankreich allerdings wieder eine sehr erfolgreiche Dokumentation über die französische Nationalmannschaft bei der WM in Russland.
Fußballer im TV: Immer eine Inszenierung | Foto: GERARD JULIEN/AFP/Getty Images
Mittlerweile sieht die Situation nämlich ganz anders aus: Durch das Aufkommen von Streaming-Diensten wie “Amazon Prime”, “Netflix” oder “Dazn” sind solche Formate mittlerweile an der Tagesordnung. Die Plattformen haben die Potenziale des “Original Content” für sich entdeckt. “Original Content” bezeichnet eigenproduzierte Inhalte, die von den Plattformen in Auftrag gegeben, finanziert und ausgestrahlt werden. Im Sportbereich wurde das Engagement der verschiedenen Dienste massiv ausgeweitet, mittlerweile ist eine große Bandbreite in verschiedenen Sportarten vorhanden. Egal, ob im Basketball oder Football – in den USA sind Dokumentationsserien über Mannschaften und Sportler momentan meistens große Erfolge.
Motiv: eigener Content statt teure Sportrechte
Eine Strategie könnte sein, mit diesen Formaten langfristig ebenfalls im Sportrechte-Markt mitzureden – aktuell sind die Summen, die beispielsweise für die Ausstrahlung der Bundesliga zu zahlen sind, astronomisch hoch. Durch die Popularität der Plattformen und die Entwicklung eigener Inhalte ergeben sich allerdings Potenziale, die die Abonnenten-Zahlen in die Höhe schnellen lassen können. Dass sportbezogene Inhalte in der Medienwelt immer weiter zunehmen, verdeutlicht sich nicht zuletzt durch einen Blick in die sozialen Medien, in der Fußballer mittlerweile zu Influencern mutieren.
Und die meisten Doku-Serien, die sich momentan auf dem Markt finden, sind bestens produziert: Echte Spielszenen werden eingebunden, die Aufmachung ähnelt einem Hochglanz-Produkt und durch das Darstellen von intimen Szenen aus der Kabine oder dem Zuhause der Sportler wird eine unmittelbare Nähe geschaffen, mit der man Kundinnen und Kunden lange an das eigene Produkt bindet.
Dokumentation über Mario Götze als Beispiel
“Dazn” produzierte vor kurzem eine teure Dokumentation über den Dortmunder Fußballer Mario Götze: in vier Episoden zu rund je einer Stunde wurde Götzes Weg über sieben Monate lang begleitet. Zu Wort kamen, wie in vielen anderen Dokus auch, jede Menge Personen: Journalisten, Mitspieler, Familienmitglieder, Trainer und Fans. Aus vielen Perspektiven erfuhr man also mehr über den Menschen Mario Götze, der sich zuvor durch streng kontrollierte Medienarbeit und wohlfeine Worthülsen auszeichnete.
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Verantwortlich dafür zeichnete sich Aljoscha Pause, der sich als Filmemacher bereits mit Produktionen über den ehemaligen effzeh-Profi Thomas Broich (“Tom meets Zizou – Kein Sommermärchen”) einen Namen gemacht hatte. Im Zentrum stand in dieser Doku mit Mario Götze ein Fußballer, der trotz seines jungen Alters bereits Erfolg und Misserfolg im Sport in jeweils unterschiedlichen Intensitäten kennengelernt hat. Nach seinem Siegtreffer im WM-Finale 2014 (und auch schon davor) galt er als der kommende Superstar, bevor er beim kriselnden BVB zum Bankdrücker mutierte und Schwierigkeiten mit Ex-effzeh-Coach Stöger offenbarte.
Manchester City und Juventus: Zwei Klubs als Pioniere
International gibt es viele weitere Projekte, in denen das Selbstmarketing wie im Fall Götze unterschiedlich offen durchschien: “Amazon” begleitete den englischen Verein Manchester City und dessen populären Trainer Josep Guardiola während der Saison 2017/2018 und zeigte immer wieder Szenen aus dem Innenleben des mit viel Geld hochgezogenen Vereins, kommentiert von niemand Geringerem als Sir Ben Kingsley.
Ähnlich war es bei Juventus, über die im Rahmen einer “Netflix”-Dokumentation berichtet wurde. Bereits hier fällt auf: Die beiden großen Plattformen widmen sich zwei erfolgreichen Vereinen, die viel Erfolg und ohnehin schon eine große Fanbasis haben. Gezeichnet wird das Bild eines perfekt funktionierenden Fußballklubs, in dem keinerlei Probleme oder Konflikte vorliegen. Dass Manchester City allerdings nur durch das Geld aus den Vereinigten Arabischen Emiraten dort ist, wo der Verein mittlerweile steht, wird weniger thematisiert.
Reines Marketing? Es geht auch anders
Auch bei der Doku über Juventus wird weniger auf problematische Aspekte eingegangen, gleichermaßen werden Sponsoren prominent ins Licht gerückt, weswegen eine Frage erlaubt scheint: Sind diese als Dokumentationen deklarierte Serien eigentlich wirklich neutral, dokumentieren sie die Realität? Oder dienen sie nur dazu, ein Produkt zu vermarkten? Dass ein Blick in die Kabine authentisch wirkt, ist logisch – die dahinter stehende Inszenierung nimmt dem Ganzen aber ein wenig den Zauber.
Hauptfigur der Doku über Man City: Pep Guardiola | Foto: Nigel Roddis/Getty Images
Dass es jedoch auch anders geht, beweist “Amazon” mit der Doku-Serie “Six Dreams”, bei der über sechs Folgen verschiedene Protagonisten des spanischen Erstliga-Fußballs begleitet werden. In Zusammenarbeit mit La Liga ist ein Produkt entstanden, das auch einen Blick wirft abseits der Scheinwerfer: Die Arbeit in Klubs wie Girona oder Eibar, die mit einem geringen Budget die Liga zu halten versuchen, ist ein zentrales Motiv der Serie. Anhand des Sportdirektors Quique Carcel (Girona) und der Präsidentin Amara Gorostiza (Eibar) erkennt man, wie schwer die Arbeit im professionellen Fußball sein kann, wenn man nicht über das ganz große Geld verfügt.
Müssen es immer die Glamourvereine und -spieler sein?
Andrés Guardado, mexikanischer Nationalspieler, wird während seiner Saison mit Betis Sevilla ebenso begleitet wie Inaki Williams bei Athletic Bilbao. Der einzig wirklich glamouröse Vertreter des spanischen Fußballs in dieser Serie ist Atletico Madrids Jungstar Saul Niguez. “Six Dreams” offenbart jedoch jenseits der Hochglanzproduktionen, das auch weniger bekannte Protagonisten es verdienen, einen näheren Blick auf ihre Arbeit zu werfen.
Über deutsche Vereine gibt es solche Doku-Serien momentan noch nicht, obwohl RTL Nitro angekündigt hat, die Europapokal-Saison von Eintracht Frankfurt in einer siebenteiligen Doku-Reihe filmisch zu begleiten. Damit sich solche Produktionen über Mittelklasse-Vereine allerdings lohnen, müssen sie ein Thema aufgreifen, das die Massen über die Fanbasis hinaus begeistert – das muss die Doku-Reihe erst einmal unter Beweis stellen. Denn klar ist, dass alle Eintracht-Fans einschalten werden – wie man das breite Publikum abholt, wird abzuwarten bleiben.
Von daher gilt: Die Dokus sind unter dem Blickwinkel inszenierter Einblicke in die Fußballwelt durchaus interessant, bieten allerdings bis auf wenige Ausnahmen wirklich einen Mehrwert. Gerade für kleinere Klubs dürften solche Formate in der Umsetzung schwierig werden – obwohl Potenziale durchaus vorhanden sind. Denn wen würde es nicht interessieren, wenn man am Beispiel des 1. FC Köln filmisch untersucht, wie ein großer Traditionsverein den Weg in die Moderne schaffen will und dabei immer wieder grandios scheitert? Vielleicht hat ja eine große Plattform Interesse, die Protagonisten zu begleiten – wir würden auf jeden Fall einschalten!