Es ist eine beängstigende Anamnese, die der Fußballjournalist Christoph Ruf im vergangenen Jahr über den Zustand des Fußballs zusammengestellt hat. In seinem 189 Seiten starken Buch widmet er sich den epochaltypischen Schlüsselproblemen der fußballerischen Moderne. Dabei geht es natürlich vorrangig um die 50+1-Regelung, die als letzte Bastion gegen die komplette Liberalisierung des Fußballmarktes in Deutschland kurz vor dem Fall steht. Es geht auch um die derzeitige und zukünftige Rolle der Fans, die sich natürlich nicht vom Vorwurf freimachen können, dass sie nicht selbst dazu beigetragen haben, dass das Rad der Kommerzialisierung weiter gedreht wird. Ihre Rolle, aber auch ihre Bedürfnisse finden in diesem Buch immer wieder ihren Platz.
Schließlich wird sich auch der Situation des deutschen Amateurfußballs zugewendet, der von den Millionenerträgen der großen Fußballverbände wenig bis gar nichts abbekommt, gleichzeitig aber aufgrund strikter Regularien ums Überleben kämpft. Auch Themen wie Mitbestimmung, Demokratie und vor allem der Umgang mit den zahlenden Mitgliedern eines Vereins sind Motive, mit denen sich Ruf in seinem Buch verstärkt auseinandersetzt.
Eine Branche vor der Zeitenwende: Christoph Rufs Anamnese
Eines steht fest: kulturpessimistische Texte über die Zukunft des Fußballs gab es in jüngster Vergangenheit zuhauf. Das ist nicht negativ zu verstehen, zeigt aber auf, dass die Komplexität des Fußballgeschäfts mit all seinen Interessengruppen und Strömungen durchaus jede Menge problematische Aspekte aufwirft, die man diskutieren muss. Christoph Ruf ist es in seinem Buch gelungen, viele dieser Strömungen einzufangen, aufzubereiten und gleichzeitig durch die Beiträge der Betroffenen authentisch und relevant zu machen. Einen stringenten Erzählfaden gibt es in diesem Buch eher nicht, aber das ist auch nicht notwendig: Durch die Verschiedenheit der 17 Kapitel entsteht ein Gesamtbild einer Branche, die vor mehreren großen Zerreißproben, gar einer Zeitenwende steht. Und irgendwann in der Zukunft wird man sagen, dass viele Leute es vorhergesehen haben und dabei auf das Buch von Christoph Ruf verweisen.
Christoph Ruf im Jahr 2015 | Foto: Boris Streubel/Bongarts/Getty Images
Dieser beginnt seine Reise mit einer Auseinandersetzung darüber, dass der deutsche Fußball im globalen Wettrennen um die Gelder ausländischer Investoren nicht davor zurückschreckt, eine komplett grenzdebile Idee durchzusetzen – wer erinnert sich nicht an den Startplatz für die chinesische U20, die in der Saison 2017/2018 in der Regionalliga Südwest antreten sollte? Dass das Experiment nach einiger Zeit bereits abgebrochen wurde, konnte Ruf natürlich damals noch nicht wissen – die positiv formuliert „exotische“ Idee war von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Das liegt natürlich auch daran, dass in der Regionalliga an der Schnittstelle zwischen dem finanziell potenten Profifußball und dem an Verbandsschwachsinnigkeiten (Aufstiegsregelung!) verzweifelnden Amateurfußball die Frustrationstoleranz bei Funktionären, Fans und Spielern gesunken ist. Auf einer übergeordneten Ebene, vor allem mit etwas zeitlicher Distanz, ist diese Idee und deren spätere Aussetzung eine Metapher dafür, inwiefern sich die Verbände von ihrer Basis entfernt haben.
Dresden, St. Pauli, Amateurvereine: Es geht auch anders
Auf diese Basis unterhalb der Regionalliga geht Ruf danach ein: die schwierige Aufstiegsregelung in der Regionalliga, zweite Mannschaften von Profivereinen als unnötiges Füllmaterial, die fast unmögliche Suche nach Sponsoren, … Es gibt quasi keinen Aspekt, den Ruf in seinem Kapitel über die Situation des Amateurfußballs nicht thematisiert. Dass es jedoch insbesondere im Premiumbereich auch anders geht, verdeutlicht er am Beispiel des SC Freiburg, der intensiv für die Beibehaltung der 50+1-Regelung kämpft und damit im Geschäft fast alleine dasteht.
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Auch einige der „charismatischsten Vereine Deutschlands“ hat Ruf besucht. Zuerst unternahm er eine Reise in den Osten, wo Dynamo Dresden und seine Fans wie so oft jedoch in der Öffentlichkeit meistens mit negativen Attributen dargestellt werden. Zitate von Geschäftsführer Ralf Minge (ursprünglich geäußert im Stadionmagazin) klingen in dem Zusammenhang sehr wohltuend: „Die Fans und Mitglieder sind unsere Basis. Dynamo Dresden ist ein demokratischer, mitgliedergeführter Traditionsverein. Das ist unsere DNA.“ Weiteres Beispiel? Große, überregionale Sponsoren sucht man bei Dynamo vergebens – die meisten kommen aus dem Mittelstand und der Region und bringen daher eine große emotionale Verbundenheit mit dem Verein mit. Diese Aspekte werden in der Berichterstattung über Dynamo meist geflissentlich missachtet.
50+1 als letzte Bastion? Beispiel 1860 München
Der FC St. Pauli ist ein weiteres Beispiel dafür, dass es auch anders geht – alle wichtigen Entscheidungen werden unter Miteinbeziehung der Mitglieder und Fans getroffen, die es mittlerweile sogar bis in die wichtigsten Positionen des Vereins geschafft haben. Mitglieder der Fanszene in führenden Funktionen eines Vereins? Was an vielen anderen Bundesligastandorten eine Schreckensvorstellung darstellt, ist in Hamburg Realität.
Danach begibt sich Ruf auf eine Reise in niedere sportliche Gefilde: er widmet sich der Situation des VFC Plauen, der aufgrund des Engagements seiner Fans überleben konnte. Danach geht es zu Rot-Weiß Oberhausen, das seit Jahren in der Regionalliga hängt und verzweifelt versucht, aus der vierten Spielklasse herauszukommen. Carl-Zeiss Jena, Hamborn, Spielberg und Wacker Nordhausen sind weitere Stationen.
In einem größeren Teil des Buches geht es dann um die Verwerfungen, die ein Wegfall der 50+1-Regelung mit sich bringen könnte. Ein Beispiel dafür findet sich bereits beim TSV 1860 München, dessen Investor Hasan Ismaik den Verein bis ins Verderben führte – interessanterweise fanden die Fans den Abstieg in die Regionalliga Bayern nicht so schlecht, um die Identität des Vereins wieder zu stärken. Welche Konsequenzen das irrsinnige Rennen um noch mehr Geld haben kann, demonstriert Ruf dann am Beispiel von englischen Fans, die billiger dran sind, wenn sie am Wochenende ein Spiel in der Bundesliga im Stadion verfolgen – in der Premier League ist das für normale Menschen kaum noch zu finanzieren.
Unser Urteil: Ein absolut lesenswertes Zeitzeugnis
Und das ist auch die große Frage, die dieses Buch aufwirft. Wo soll sich Deutschland im globalisierten und auf Gewinnmaximierung ausgelegten Fußballbetrieb positionieren? Welche Diskurse müssen weitergeführt werden, um den Zustand der Fußballkultur zu wahren? Welche Bedeutung hat die Beibehaltung der 50+1-Regelung? Und was wird passieren, wenn sie gekippt wird? Funktionäre wie Andreas Rettig, der kürzlich seine elf Thesen zur Zukunft des Fußballs veröffentlichte, scheinen eben diese Zeichen der Zeit ebenso erkannt zu haben. Es ist Aufgabe derjenigen Menschen, denen etwas am deutschen Fußball und dessen Kultur liegt, dafür zu sorgen, dass man Fans Folgendes erklärt: Sofortiger sportlicher Erfolg durch zusätzliches Kapital lässt sich vielleicht erreichen, ist aber meist nicht nachhaltig und sorgt dafür, dass andere Werte verloren gehen, die vielleicht wichtiger sind als drei Punkte.
Gerade in Zeiten des Populismus, Rechtsrucks und Aushöhlen des Demokratieverständnisses vieler Bevölkerungsruppen ist es bedeutsam, auf den Fußball auf Spiegelbild der Gesellschaft hinzuweisen, in dem sich viele Entwicklungen im Kleinen ebenfalls abspielen. Mitbestimmung, Teilhabe und gesellschaftliches Engagement sind Werte, die man vermitteln sollte, um Fußball als das zu erhalten, was er sein sollte – Volkssport.
Christoph Rufs Buch ist daher als prophetisches Zeitzeugnis zu sehen und dementsprechend Pflichtlektüre für alle, denen etwas am Fußball liegt. Eine umfassendere Beobachtung findet sich derzeit wohl nirgendwo anders – nicht zu Unrecht wurde das Buch daher als „Fußballbuch des Jahres 2018“ nominiert.
Informationen zum Buch:
Erscheinungsdatum: September 2017
Autor: Christoph Ruf
Verlag: Die Werkstatt
Seiten: 189
Preis: 14,90 €