Das neue Buch des “11Freunde”-Chefredakteurs Christoph Biermann beschreibt die Auswirkungen der digitalen Revolution auf den Fußball und wie sich das Spiel, die Arbeit der Vereine und die Berichterstattung der Medien dadurch ändern. Wir haben reingelesen.
Fußball an sich ist ein einfaches Spiel. 22 Spieler, ein Ball, zwei Tore – der Rest ist bekannt. Doch je älter der Fußball wird, desto komplexer scheint er auch zu werden: Vor zwei Jahren war auf einmal von Packing die Rede, dem neuen Allheilmittel der medialen Fußballberichterstattung, die 2016 auch bereitwillig auf den Zug aufsprang, freilich jedoch ohne zu wissen, um was es sich dabei genau handelt und wie man eigentlich damit umgehen soll. Und seitdem hat sich Entwicklung noch einmal beschleunigt: Vereine scouten ihre neuen Spieler mittlerweile weltweit und können auf Knopfdruck einen Bericht mit den relevantesten Daten eines Spielers erstellen. Suche ich einen Verteidiger, lasse ich mir für einen Verteidiger die passenden Werte anzeigen und entscheide dann, ob ich ihn verpflichte. Der Run auf die Daten vollzieht sich in einem größeren gesellschaftlichen Zusammenhang, in dem das epochaltypische Schlüsselproblem Big Data alle Bereiche des täglichen Lebens betrifft – natürlich und nicht zuletzt auch im Fußball.
Dort ist es, wie Christoph Biermann in seinem neuen Buch “Matchplan” im Vorwort beschreibt, mittlerweile möglich, “Glück und Pech im Fußball” zu berechnen, die Leistungen der Akteure ließen sich nunmehr besser bewerten und man wisse nun eher, was “wirklich zum Sieg führt”. In dieser Entwicklung waren es hingegen nicht immer die großen Player in der Branche, die ansonsten die Trends setzen – manchmal waren es Quereinsteiger, Rulebreaker oder Nerds, die durch ihren speziellen Blick auf den Fußball eine mehr oder weniger nachhaltige Begeisterung ausgelöst haben, Datenanalyse im Fußball zu betreiben.
Christoph Biermann über den Zusammenhang zwischen Fußball und Digitalisierung
Das war auch der Ansatzpunkt für den gebürtigen Krefelder und Bochum-Fan Biermann, der seit Jahren zu den renommiertesten deutschen Fußballautoren zählt und bereits mehrere preisgekrönte Bücher veröffentlicht hat. 2009 nahm er bereits diese Entwicklungen in seinem Buch “Die Fußball-Matrix” auf, allerdings ohne zu wissen, wie sehr sich die Digitalisierung in den Jahren darauf beschleunigen sollte. Doch bereits damals lieferte er ein Werk, das für Fußballbegeisterte definitiv ins Bücherregal gehört.
Christoph Biermann (l.) im Gespräch mit dem Bundestrainer | Foto: Stuart Franklin/Bongarts/Getty Images
Sein neuester Streich, das bereits angesprochene Buch “Matchplan”, ist im Jahr 2018 im Verlag “Kiepenheuer & Witsch” in Köln erschienen. Für 14,99 € bekommt man auf 270 Seiten einen Einblick in den Zusammenhang zwischen Digitalisierung und Fußball. In insgesamt elf Kapiteln widmet sich Biermann verschiedenen Schwerpunkten. Ausgehend von Fehlurteilen, die zum Fußball dazugehören wie der Ball und die Fans, setzt er sich mit dem Einflussfaktor “Zufall” auseinander, bevor er mit verschiedenen Rulebreakern (Personen, die mit Althergebrachtem brechen und neue Sichtweisen entwickeln) über ihre Ideen spricht.
Wie kann man mithilfe von Daten Fußballspiele gewinnen?
Im Hauptteil des Buches geht es dann um die eigentliche Fußball-Matrix und die Welt der Daten, in die man rund um das an sich so einfache Spiel eintauchen kann. Abschließend setzt sich Biermann mit der Bedeutung von Kaderplanung auseinander, die an einem Beispiel durch die Erstellung von Persönlichkeitsprofilen der Spieler näher ausgeführt wird. Das letzte Kapitel des Buches wirft einen Blick in die nähere Zukunft, in der die Leistungen der Spieler durch Virtual Reality und Brain Apps nachhaltig verbessert werden könnte.
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Biermanns Ausgangspunkt für seine Betrachtungen ist die Frage, wie man mithilfe von Daten Fußballspiele gewinnen kann. Er beschreibt, und das ist wohl der stärkste Teil des Buches, welche Fehler sowohl in der täglichen Arbeit mit einer Mannschaft auf dem Feld als auch in der medialen Berichterstattung gemacht werden. Beispiel gefällig? Biermann unternimmt einen Abstecher in die Verhaltenspsychologie und erklärt, inwiefern verschiedenste Wahrnehmungsfehler verhindern, dass man sich verbessert.
Welche Rolle Jörg Schmadtke in diesem Buch spielt
Sein fußballerischer Erklärungsansatz hängt eng mit dem ehemaligen effzeh-Geschäftsführer Jörg Schmadtke zusammen, der einmal erklärte, dass er seinen Scouts nicht erklärte, welche Spieler sie unter die Lupe nehmen sollten, wenn er sie auf Reisen schickte. Erst, wenn der Scout denselben Spieler als wertvoll erachtet, sei dessen Auftrag auch erfüllt. Schmadtke befürchtet, dass die Wahrnehmung der Scouts getrübt werde, wenn er sie mit einem speziellen Auftrag losschicken würde – denn wenn der Chef sagt, Spieler X ist gut, dann muss er wohl auch gut sein. So allerdings werden die Scouts zum Denken angeregt. Ist dies nicht der Fall spricht man von confirmation bias.
Auf der nächsten Seite: Weitere Wahrnehmungsfehler, Datenmodelle und unsere Meinung zum Buch.
Dass allerdings Wahrnehmungsfehler auch auf Seiten der Fußballberichterstattung stattfinden können, erläutert Biermann anhand des Beispiels, dass im Fußball alles immer in eine Erzählung gepackt werden soll. Er sieht Fußball als “Geschichtenfabrik”, in der täglich neue Kapitel geschrieben werden, die die gesamte Erzählung fortführen. Dem liege der Wunsch des Menschen zugrunde, alles in schlüssig erscheinende Geschichten zu verpacken. Auch hier kann Schmadtke als Beispiel dienen: Zuerst galt er in Köln als genialer Kaderplaner, der die Fans mit der Europa-League-Qualifikation beschenkte, nach dem Absturz galt er als wirrer Kauz, der seinen Abgang schon von langer Hand geplant hatte. Hier lautet der Fachbegriff story bias.
https://twitter.com/arnepuyol/status/995613273570627584
Welche Wahrnehmungsfehler zum Fußball dazugehören
Der Autor geht in seinem Werk noch auf weitere Wahrnehmungsfehler ein, für deren Beschreibung an dieser Stelle der Kauf des Buches zum ersten Mal empfohlen wird. Weiterhin gelingt ihm durch einen Rückgriff auf das Vorgehen eines Datenexperten, den Unterschied zwischen den wirklich relevanten Daten und “Datenabfall” zu erkennen – die Begrifflichkeiten lauten hier signal und noise. Das ist insofern interessant, als dass es glänzend zur stetig jungen Diskussion um den Sinn und Unsinn in der Fußballberichterstattung passt. Ist es wichtig, dass eine Mannschaft seit Jahren nicht beim Angstgegner gewonnen hat? Oder ist es wichtiger, dass eine Mannschaft wenig aufs Tor schießt, aber wenn dann aus guten Positionen ohne großen Gegnerdruck? Dem “11Freunde”-Chefredakteur gelingt es spielerisch, diese Bedeutungszusammenhänge darzustellen und greifbar zu machen.
So weit sind wir immerhin noch nicht | Foto: KAZUHIRO NOGI/AFP/Getty Images
Ähnlich ist es mit den verschiedenen Datenmodellen, die Biermann zum Thema macht und teilweise durch ihre Entwickler erklären lässt. Das Konzept “expected goals” dürfte mittlerweile bekannt sein, es analysiert die Position, von der aus Torschüsse abgegeben werden. Interessant ist ebenfalls die Arbeit von “GoalImpact”, bei dem beschrieben wird, welchen Wert ein Spieler für seine Mannschaft hat, sofern er auf dem Feld steht. Das bereits angesprochene Packing, von den ehemaligen Profis Reinartz und Hegeler entwickelt, findet natürlich auch Beachtung.
Unsere Meinung zum Buch: Kaufen!
Eine Stärke des Buches liegt weiterhin darin, dass Biermann es schafft, die Bedeutung des Zufalls so behutsam zu erläutern, dass bei aller Datenwut klar wird, dass Fußball ein Spiel von menschlichen Fehlern ist, das stark von Glück und Pech abhängt. Durch den Rückgriff auf verschiedenste Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit (unter anderem den BVB in der Saison 2014/2015) wird dieser Zusammenhang greifbar – gleichzeitig wird auch klar, dass das alleinige Verfügen über Daten nicht dabei hilft, Spiele zu gewinnen. Denn dazu ist es nötig, diese Daten zu interpretieren und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Eine Mannschaft erfolgreicher zu machen hängt natürlich auch von der Persönlichkeit eines Trainers ab, die man in Daten sowieso nur schwerlich greifen kann.
Von daher ist zu konstatieren, dass Biermann kein Daten-Apologet ist, der nur noch darauf vertraut, dass in den Zahlen die absolute Wahrheit liegt. Das Buch “Matchplan” schafft es, verschiedenste digitale Entwicklungsstränge miteinander zu verknüpfen, ohne jedoch unkritisch dabei zu sein. Durch die Gespräche mit verschiedensten Persönlichkeiten aus der Szene wird verständlich, was der Grund dafür war, dass diese ihre eigenen Modelle entwickelten und der traditionellen Sichtweise auf den Fußball abschwörten. Der nunmehr auch digital gewordene Fußball muss sich weiterentwickeln, sowohl in der Analyse der Daten als auch in der Berichterstattung. Warum das so ist, kann kein Fußballbuch auf dem Markt derzeit besser verständlich machen. Von daher gibt es für Biermanns “Matchplan” von uns eine absolute Kaufempfehlung!
[accordions] [accordion title=”Informationen zum Buch” load=”hide”]Titel: “Matchplan”Autor: Christoph Biermann
Erscheinungsjahr: 2018
Erscheinungsort: Köln
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Seiten: 270
Preis: 14,99 €[/accordion] [/accordions]