Zu den Spielen unseres geliebten und glorifizierten ersten Fußballclubs Köln werden wir auch in dieser Saison einem Fan ein paar Fragen stellen. Und weil Gegner ja immer irgendwie “auswärts” sind, egal ob der effzeh zu Hause oder auf fremdem Platz antritt, und weil die Sichtweise von “auswärts” kommt, heißt die Kategorie folgerichtig “Auswärtsspiel”. Wir sind nicht nur gespannt, wieviel effzeh in den Anhängern der anderen Bundesligisten steckt, sondern erwarten auch eine Einschätzung zur Situation der gegnerischen Mannschaft.
Da die Redaktion von effzeh.com das Marketingkonstrukt Red Bull Leipzig ablehnt, haben wir uns entschieden, für dieses Auswärtsspiel einen Fan von BSG Chemie Leipzig zu befragen. Für das effzeh.com-“Auswärtsspiel” haben wir uns mit Bastian Pauly (@chemieblogger) einen Journalisten und Blogger eingeladen, der auf www.chemieblogger.de über den Leipziger Fußball schreibt.
Bastian, du bist neben deiner Tätigkeit als Journalist und Blogger auch Mitglied bei BSG Chemie Leipzig, der in der Oberliga Nordost unterwegs ist. Wie steht es momentan um deinen Herzensverein?
Nach vielen schwierigen Jahren der sportlichen Enttäuschungen, Insolvenzen und erbitterten vereinsinternen Streitigkeiten wandelt Chemie endlich auf soliden Pfaden. Das Wissen um die identitätsstiftende Geschichte prägt nun wieder deutlich stärker die Vereinspolitik. Die Fans werden gehört und ernst genommen, sie übernehmen wichtige Aufgaben in Gremien und bei der Spieltagsorganisation. Anders wäre es auch kaum möglich, denn die finanziellen Ressourcen sind beschränkt. Das Stadion, der Alfred-Kunze-Sportpark, ist ebenso traditionsreich wie baufällig. Die Ansprüche eines ehrlichen Fußballs erfordern Geduld, was die sportliche Entwicklung angeht. Nach dem Neustart 2008 in der letzten Liga ist Chemie seit dieser Saison immerhin fünftklassig. Ich hoffe, dass da noch nicht Schluss ist.
Die Leipziger Fußballgeschichte ist sowohl vor als auch nach der Wende reich an Anekdoten und Geschichten, was sich unter anderem auch in der Vergangenheit deines Vereins geäußert hat. Was macht den Verein für dich aus?
Leipzig war von jeher eine geteilte Fußballstadt. Die einen gingen zu Chemie nach Leutzsch, die anderen zum 1. FC Lok nach Probstheida. Die intensive Rivalität bestimmt das jeweilige Image beider Klubs. Zu DDR-Zeiten musste Chemie seine besten Spieler regelmäßig an das Leistungszentrum von Lok abgeben – weil es die Sportpolitfunktionäre so wollten. So etwa gingen per Beschluss vor der Saison 1963/64 die vermeintlich besten Spieler der Stadt nach Probstheida, die übrigen nach Leutzsch. Aber am Ende der Spielzeit wurde Chemie mit dem „Rest von Leipzig“ unter Trainer Alfred Kunze sensationell DDR-Meister. Die „Leutzscher Legende“ war geboren. Eine unglaubliche Geschichte, die noch heute jedes Kind im Block erzählen kann.
Wie hat die Wiedervereinigung den Leipziger Fußball beeinflusst?
Wie überall im Osten brachte die Wiedervereinigung Ernüchterung nach Fußball-Leipzig. Die Ansprüche waren hoch, Lok stand noch 1987 im Pokalsieger-Cup-Finale und Chemie hatte zwei DDR-Meisterschaften vorzuweisen. Nach 1990 interessierte das niemanden mehr, Lok nannte sich zwischenzeitlich wieder VfB und Chemie wurde für zwei Jahrzehnte zum FC Sachsen. Am Geld hatte es beiden Vereinen selten gefehlt, wohl aber an fundierten Konzepten. Mit jedem Abstieg, mit jeder Insolvenz und jeder Negativschlagzeile über Randale rückte der Profifußball in weitere Ferne. Als Red Bull 2009 kam, war Lok als Fünftligist der beste Leipziger Verein.
Was hat das Marketinginstrument Red Bull Leipzig seither in der Stadt angerichtet?
Der Dosenverkäufer hat viele Leipziger binnen sieben Jahren zu willfährigen Erfüllungsgehilfen gemacht. Rot-Weiß prägt jetzt das Stadtbild, während sich früher wegen der erbitterten Rivalität kaum einer traute, Grün-Weiß oder Blau-Gelb aufzutragen. Die Erfolge von RB Leipzig sind inzwischen ein selbstverständliches Smalltalk-Thema wie sonst nur das Wetter. Jeder redet mit, in meiner Facebook-Timeline haben Leute den Bundesliga-Aufstieg gefeiert, die von Fußball keine Ahnung haben. Lokalpolitiker jubeln über angeblich tausende neue Arbeitsplätze, zur Aufstiegsfeier auf dem Markt sang der Gewandhaus-Kinderchor uniform mit dem Bullenlogo auf der Brust. RB Leipzig inszeniert sich als das Gegenteil von dem, womit die Traditionsvereine identifiziert werden: unzeitgemäße Romantik, Finanzprobleme, Gewalt. Ein verfängliches Narrativ, das nicht richtiger wird, je öfter man es wiederholt.
Wie groß war die tatsächliche Sehnsucht in der Stadt Leipzig nach Bundesligafußball? Häufig wird der Sachverhalt so dargestellt, dass Red Bull dankenswerterweise gerade Leipzig für seine Marketingmaßnahme ausgewählt hat… stimmt das eigentlich?
Red Bull ist nicht gekommen, um den darbenden Leipzigern etwas Gutes zu tun. Red Bull ist gekommen, um Dosen zu verkaufen. Das scheint auch ganz gut zu funktionieren. Für 2015 vermeldete der Konzern erst kürzlich einen Rekordgewinn – bei einem einzigen Produkt, das noch dazu niemand braucht. In Leipzig gab es ideale Voraussetzungen für den Einstieg. Die Gründungstadt des DFB hat eine lange Fußballtradition. Bei Länderspielen war das Zentralstadion selbst gegen Leichtgewichte wie Liechtenstein sofort ausverkauft. Bei aller Euphorie gab es aber keinen Verein, der die WM-Arena füllen konnte. Die Öffentlichkeit gierte nach Profifußball. In Salzburg hat man das genau analysiert und Leipzig letztlich den Zuschlag erteilt.
Waren die Leipziger von Anfang an bereit, einen auf dem Reißbrett entwickelten Fußballverein vollends anzunehmen? Oder gab es auch Argwohn zu Beginn?
Vom ersten Tag an stieß das Projekt in der Stadt auf große Neugierde, Sympathie und Euphorie. Es gab Leute, die nach Jahrzehnten bei Chemie oder Lok ihren Schal im Schrank vergruben und seither zu RB gehen. Natürlich gab es Argwohn, allerdings eher bei denen, die etwas zu verlieren haben, bei den etablierten Vereinen und ihren Fans, nicht nur in Leipzig. Und bei Fußballromantikern wie mir, die sich ernsthaft darum sorgen, wo die Kommerzialisierung noch hinführt.
Wie schätzt du die Fanszene des Aufsteigers mittlerweile ein? Was sind typische Charakteristiken?
Die große Mehrheit der Stadionbesucher will guten und erfolgreichen Fußball sehen. Man gefällt sich in Selbstironie und greift plumpe Anwürfe à la „Alle Bullen sind Schweine“ genüsslich auf, um den Absendern deren Beschränktheit vorzuhalten. Bei fundierter Kritik aber neigen viele RB-Fans zu Dünnhäutigkeit. Es ist eben nicht nur toll, wenn man nicht dazugehören darf. Im Stadion gibt es auch kritische Gruppen wie die „Rasenballisten“, die jeden Bezug zum Geldgeber vermeiden wollen. Das ist ja ganz gut gemeint, aber ich kann es bis heute nicht nachvollziehen. Das ganze Projekt ist untrennbar mit Red Bull verbunden. Wer das ausblendet, ist schizophren. Andere Gruppen wie die „Red Aces“ imitieren die Ultrà-Bewegung, ohne jedoch das szenetypische Selbstverständnis vollständig zu übernehmen, etwa beim Thema Emanzipation und Mitbestimmung.
Mittlerweile ist September, Red Bull Leipzig ist zwar noch nicht Konsens, aber zumindest angekommen in der Bundesliga. Was wird das Marketingprojekt noch erreichen? Wo liegen deiner Meinung nach Grenzen und Potenziale?
Diese Saison reicht es für einen internationalen Startplatz, das habe ich auch schon vor der Saison gesagt. Die Proteste werden allmählich abklingen, wie das zuvor bereits mit Hoffenheim passiert ist. Das Projekt hat keine Grenzen und umso mehr Potenziale. Es ist befremdlich, mit welcher Chuzpe und Selbstgerechtigkeit die 50+1-Regel überdehnt wird. Ich kann mir vorstellen, dass das Beispiel Schule macht. Red Bull ist weder ein Investor, Sponsor noch Mäzen. Nein, es ist eine völlig neue Qualität. Ein Wirtschaftsunternehmen baut um seine Marke herum einen Fußballverein – das hat es noch nie gegeben. Und das unterscheidet das Projekt auch von Wolfsburg um Investor Volkswagen, Schalke um Sponsor Gazprom und Hoffenheim um Mäzen Dietmar Hopp. In allen Fällen ist der Verein die Marke, das Produkt der Fußball. In Leipzig ist es anders. RB Leipzig ist Deutschlands erster Marketingklub.
Auf der nächsten Seite: Prognosen, Medien und der Protest der Fanszene Köln.
Wie lautet deine Prognose für den Leipziger Vereinsfußball in zehn Jahren?
Vom Fanpotenzial her gehört Chemie mindestens in die dritte Liga, bei Lok ist es nicht anders. Dafür braucht es aber kontinuierliche Arbeit und auch Glück. RB wird mit Sicherheit eine bedeutende Rolle in der Bundesliga spielen. Die Frage ist nur, was passiert, wenn Multimilliardär Dietrich Mateschitz einmal nicht mehr die Geschicke von Red Bull lenken sollte.
Welche Rolle spielen die lokalen Medien in der Berichterstattung über das Produkt Red Bull Leipzig? Sind die Meinungen differenziert oder dominiert mittlerweile unkritische Lobhudelei?
Regionale Mainstreammedien haben grundsätzlich kein Interesse daran, vielversprechende Projekte in ihrem Einzugsbereich zu kritisieren. Schließlich steigern sich mit jedem Erfolg Auflage, Reichweite und Quote. Außerdem ist die Diskussion um das Modell auf lokaler Ebene längst abgeschlossen. Das muss die Bundesliga erst noch nachholen.
Unter der Woche hat sich die AG Fankultur des 1. FC Köln in einer Mitteilung gegenüber Red Bull Leipzig positioniert. Was ist deiner Meinung nach von so etwas zu halten? Wie findest du die Aktion, am Sonntag auf den Trikots mit der REWE-eigenen Getränkemarke zu werben?
Die Position deckt sich im Wesentlichen mit meiner Argumentation. Es ist wichtig, in der Diskussion auch auf noch so feine Unterschiede hinzuweisen. Jeder Verein hat seine eigene Erzählung, aber kein anderer als RB definiert sich über die Vermarktung eines einzigen Produktes.
Die Gegenseite macht es sich viel zu einfach, wenn sie alle Bundesligaklubs in einen großen Kommerztopf wirft. Ich begreife die Maßnahme des FC, während des Spiels mit einem Red-Bull-Konkurrenzprodukt auf der Brust zu werben, als kluges ironisches Zitat. Vermarktung an sich ist nichts Verwerfliches. Bei Union Berlin und dem FC St. Pauli versteht man es bestens, das eigene Anti-Establishment-Image in Marketing-Erlöse zu übersetzen. Aber die Fans haben in den Vereinen immer ein gewaltiges Wort mitzureden.
Die Fans in Köln haben im Vorfeld des Spiels an prägnanten Orten der Stadt relativ unmissverständliche Meinungen gegenüber Red Bull Leipzig kommuniziert. Schätzt du als hoffnungsloser Fußball-Romantiker diesen Eifer oder bist du mittlerweile schon desillusioniert?
Doch, bei aller Ernüchterung, die sich in mir in den vergangenen Jahren breit gemacht hat, ich finde den Protest wichtig. Besonders wenn es über schiefe Nazivergleiche, verkürzte Kapitalismuskritik und die reaktionäre Verklärung früherer Zustände hinausgeht. Wir dürfen die kritische Auseinandersetzung mit den Negativerscheinungen des modernen Fußballs nicht denen überlassen, die politisch rechtsaußen stehen.
#NeinZuRB #effzeh pic.twitter.com/kg6DzYlKJd
— MaPe1983 (@MaPe_21) September 23, 2016
Bei der Mitgliederversammlung des 1. FC Köln am kommenden Montag könnte erstmals eine Öffnung gegenüber einem Investor angesprochen werden. Wärest du ein Mitglied und dürftest das Wort ergreifen, was würdest du dem Präsidium sagen wollen?
Ich kenne die Details der Pläne nicht, aber grundsätzlich stehe ich Investoren nicht ablehnend gegenüber. Es kommt immer drauf an, was genau der Deal ist. Wenn es darum geht, die immense Strahlkraft eines Klubs auch auf bestimmte Produkte oder Projekte zu lenken, ist dagegen nichts einzuwenden. Wenn Investoren aber die Vereinspolitik diktieren wollen und Fans zu wandelnden Klatschpappen degradieren, widerspricht das meiner Auffassung von Vereinsdemokratie.
Ist es nicht auch irgendwie ein sportlich interessantes Projekt, mit Unmengen Geld und nahezu perfekten Bedingungen als Fußballer arbeiten zu können? Kannst du dieser Sichtweise etwas abgewinnen?
Für Ralf Rangnick ist es genau der Grund, warum er für Red Bull und nicht für einen unflexiblen Traditionsverein wie Schalke arbeitet. Viele Manager und Trainer in der Bundesliga werden ihn um seinen Gestaltungsspielraum beneiden, so wie auch die meisten Profifußballer. Die hochbezahlten Angestellten sollten aber nicht vergessen, wer sie finanziert: Viele Unverbesserliche, die sich zu jeder Saison ein neues Trikot kaufen und immer wieder hunderte Kilometer für Auswärtsfahrten auf sich nehmen, um ihre Mannschaft zu unterstützen. Bei leeren Stadien und miesen TV-Quoten würde sich kein Geldgeber dieser Welt für das Produkt Fußball interessieren.
Wie schätzt du den 1. FC Köln ein? Verfolgst du die Entwicklung des Vereins?
Die allzu wilden Chaos-Jahre, wie sie sich für den Außenstehenden früher oft darstellten, scheinen vorbei zu sein. Peter Stöger und Jörg Schmadtke arbeiten in Ruhe und mit kleinen Schritten auf Etappenerfolge hin. Das ringt mir Sympathien ab. Jetzt muss nur noch Lukas Podolski zurückkommen. Das Spannende am Fußball ist ja, dass Mannschaften ohne das ganz große Geld eine erstaunliche Entwicklung nehmen können, wenn alles andere stimmt.
Glaubst du, dass der Verein auch langfristig von seiner Tradition leben kann? Oder braucht es schneller als wir denken eine externe Finanzspritze?
Solange Klubs wie Darmstadt oder Paderborn in die Bundesliga aufsteigen können und Wolfsburg und Schalke immer wieder an den eigenen Ansprüchen scheitern, habe ich meine Hoffnungen, dass Geld eben doch nicht alles ist. Allerdings lässt die zunehmende Globalisierung der Absatzmärkte, verbunden mit immer weiter steigenden TV-Erlösen und Transfersummen, eher auf das Gegenteil schließen. Die Schere zwischen reichen und armen Bundesliga-Klubs wird in Zukunft weiter auseinandergehen. Das wird die Akzeptanz von Investoren gerade bei den finanzschwachen Vereinen steigern. Dazu trägt auch das Erfolgsmodell RB Leipzig bei – bedauerlicherweise.