Dietrich Schulze-Marmeling ist einer der profiliertesten deutschen Fußballautoren, der sich in seinen Werken oftmals der Geschichte bedeutender Vereine widmet. Gleichermaßen hat er bereits Bücher über die Geschichte der Fußball-Welt- und Europameisterschaften geschrieben, die Karriere von Johan Cruyff gewürdigt und die jüdische Vergangenheit des FC Bayern aufgearbeitet. Kurzum: Schulze-Marmeling ist ein Mann, der sich bestens im Fußball auskennt und gewisse Themen bereits schon dann als bedeutend einschätzen kann, wenn sie noch gar kein großes Thema sind. Deswegen ist es keine Überraschung, dass kurz nach dem Publikwerden des Fotos, das die beiden Nationalspieler Mesut Özil und Ilkay Gündogan mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayip Erdogan schossen, Schulze-Marmeling, seine Lektoren und Mitautoren bereits die Idee verfolgten, einen “Debatten-Band” zu diesem Thema vorzulegen.
Christoph Schottes, Lektoratsleiter beim Verlag “Die Werkstatt”, rechnete bereits frühzeitig damit, dass die Diskussion “über das dumme Foto hinausgehen wird und länger anhält”, wie er gegenüber “Börsenblatt.de” erläutert. Die eigentliche Idee sei jedoch von Schulze-Marmeling gekommen, der im Anschluss pausenlos geschrieben habe. Im Interview mit “N-TV” bekundet der Autor, dass der ganze Ablauf von der Idee bis zum Buch “relativ simpel” gewesen sei – nach dem letzten Testspiel gegen Saudi-Arabien am 8. Juni hatte der 61-Jährige bereits das Gefühl, dass “alles in die falsche Richtung” ginge.
“Antitürkischer Rassismus” als zentrales Thema der Debatte
“Da geht es gar nicht mehr um das Foto mit dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan, da kommt ein antitürkischer Rassismus hoch. Der ist ja nicht neu. Da ich gleichzeitig sehr skeptisch war bezüglich des Abschneidens der deutschen Mannschaft – ich habe ihr allerhöchstens das Viertelfinale zugetraut – war ich davon überzeugt, dass uns diese Sache weiter verfolgen würde”, erläutert er. Er sollte Recht behalten, doch der Reihe nach: Das Foto mit Erdogan wurde am 13. Mai erstmals der Öffentlichkeit zugänglich, Özils Rücktritt aus der Nationalmannschaft erfolgte am 22. Juli – passend zu den finalen Schritten in der Anfertigung des Textes. Die Argumentation hatte an keiner Stelle verändert werden müssen, gibt Schottes zu bedenken. Etwas mehr als eine Woche später erschien das Buch bereits im Handel.
Es ist also einerseits eine großartige Leistung, das Schulze-Marmeling in so kurzer Zeit zusammen mit seinen Gastautoren Ilker Gündogan, Robert Claus und Diethelm Blecking ein so profunde recherchiertes und auf Polemik verzichtendes Buch schreiben konnte. Andererseits hinterlässt der frühe Erscheinungstermin dann doch Fragezeichen, ein “Schnellschuss” sei so ein Buch, wie es mancherorts hieß. Nach der Lektüre müssen wir eines konstatieren: Schulze-Marmeling hat in extrem kurzer Zeit eine Grundlage geliefert, auf die man sich in den kommenden Jahren stützen wird, wenn man die Entwicklung der gesellschaftspolitischen Debatten in Deutschland analysieren möchte.
Schulze-Marmeling stützt sich auf seine breite Recherche
Denn darin liegt die große Stärke des Buches: Anstatt lediglich den Verlauf der sogenannten “Erdogan-Affäre” nachzuerzählen, unternimmt Schulze-Marmeling eine Reise in die Vergangenheit und untersucht, welche Rolle Einwanderer im deutschen Fußball zuvor gespielt hatten. Darin wird deutlich, dass diese bis 1998 eigentlich gar keine Bedeutung im Diskurs einnehmen konnten – sie wurden von Politik und DFB gleichermaßen missachtet. Dass Deutschland es lange Jahre verkannt hatte, eigentlich auch eine Einwanderungsnation zu sein, schlägt natürlich vor dem Lichte der jüngsten Entwicklungen verstärkt durch. Erst 1999 veränderte das Staatsangehörigkeitsgesetz die Situation von Kindern, die in Deutschland geboren und deren Eltern Einwanderer waren. Dessen wurde man sich dann auch beim DFB bewusst, der fortan einen positiveren Umgang mit dem Thema “Integration” zu wählen versuchte.
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Als “Maskottchen” dieser Bestrebungen kristallisierte sich vor gut einem Jahrzehnt der fußballerisch über jeden Zweifel erhabene Mesut Özil heraus, der sich (trotz harscher familiärer Kritik) dazu entschied, für die deutsche Nationalmannschaft aufzulaufen. Öffentlichkeitswirksam wurde seine Rolle dann auch gleich durch Kanzlerin Angela Merkel betont, die 2010 nach einem 3:0-Sieg gegen die Türkei (mit Özil-Tor) dem Regisseur der Nationalmannschaft ihre Glückwünsche aussprach. Das Motiv der politischen Instrumentalisierung von Sportlern für die eigenen Zwecke tauchte sowohl bei Erdogan als auch bei Putin auf, der den Ehrenspielführer der Nationalmannschaft, Lothar Matthäus, ebenfalls für die eigenen Zwecke einspannte. Matthäus erntete aber nicht annähernd so viel Kritik wie Özil und Gündogan.
Eine vergiftete öffentliche Diskussion bringt Özil zum Rücktritt
Acht Jahre später bekam Özil mit seinem Teamkollegen Gündogan Kritik aus dem gesamten politischen Spektrum zu hören – alleine die Tatsache, dass Linke, Demokraten, Konservative und Rechtspopulisten allesamt einen Aufhänger für ihre (un)sachlichen Äußerungen fanden, hätte Özil und Gündogan zu Denken geben müssen. Dass auf dem Trikot, das Gündogan dem türkischen Staatspräsidenten für dessen Sammlung überließ, die Worte “Für meinen Präsidenten” standen, wird von Schulze-Marmeling zwar angesprochen, aber nicht näher untersucht: Dies ist einer der wenigen sachlichen Fehler dieses ansonsten so hervorragend recherchierten und geschriebenen Buches. Die Verwendung des Possessivpronomens “mein” erfolgt in der türkischen Sprache allgemeiner und häufiger, um Nähe und Sympathie auszudrücken. Keinesfalls ist es aber von derselben Tragweite wie die deutsche Übersetzung und deshalb vor dem Hintergrund der Debatte zu relativieren.
Der Autor zeichnet in der Folge die Entwicklung der Affäre in den darauffolgenden Wochen nach, analysiert dabei den Einfluss des türkischen Nationalismus und des deutschen Rassismus. Begleitende Worte von ehemaligen Fußballgrößen, die eigentlich besser die Klappe gehalten hätten, finden auch ihren Platz – dieser Exkurs dient dazu, aufzuzeigen, wie vergiftet und bigott die Debatte von Anfang an gewesen war. Das Ausscheiden der deutschen Nationalmannschaft wird aus sportlicher Sicht ebenfalls untersucht.
2014 war alles rosig, vier Jahre später gar nichts mehr
Als das Team des DFB im Jahr 2014 noch den WM-Titel gewinnen konnte, dominierte Raphael Honigsteins Buch “Der vierte Stern: wie sich der deutsche Fußball neu erfand” im Nachgang die fußballsprachliche Literatur. Deutschland hatte es geschafft, mithilfe eines jungen, ethnisch gemischten Teams zu gewinnen, Integration galt als eine der Schlüsselaufgaben im Verband und generell war alles gut. Vier Jahre später ging so ziemlich alles schief, was schiefgehen konnte: Die ohnehin schon stark nach rechts gerückte politische Debatte bekam durch das Abschneiden des DFB in Russland noch mehr Feuer als ohnehin schon. Der Diskurs radikalisierte sich in diesem Jahr zusehends, von “Willkommenskultur” konnte keine Rede mehr sein. Und wenn dann des Deutschen liebstes Kind, die Nationalmannschaft, erstmalig in der Vorrunde ausscheidet, ist ein historisches Konglomerat an Katastrophen perfekt.
Schulze-Marmelings Buch ist dementsprechend als Standardwerk zu betrachten, dessen Wirkungsmacht auf die Bereiche Gesellschaft, Sport und Politik abzielt. Es ist eine treffende Zusammenfassung der Stimmung in diesem Land, das weniger offen zu sein scheint, als viele denken. Und das kann man sagen und gleichzeitig Özils und Gündogans Foto mit Erdogan kritisieren.
Der Fall Özil: Über ein Foto, Rassismus und das deutsche WM-Aus. 192 Seiten, 13,5 x 21 cm Paperback, mit Beiträgen von Robert Claus, Ilker Gündogan und Diethelm Blecking, ISBN: 978-3-7307-0431-8, Bestellbar über diverse Portale.