Thomas Häßler wurde bei diesem Spiel nicht eingesetzt. Nach dem guten Beginn gegen Jugoslawien zeigte er gegen die Emirate und Kolumbien eher mittelprächtige Auftritte. Dem sensiblen Techniker, der nach dem Turnier zu Juventus Turin wechseln sollte, steckten wohl immer noch die Umstände des Wechsels in den Knochen und vor allem auch im Kopf. Doch im Team versuchte man alles, den wichtigen Mann im Mittelfeld, der Deutschland im entscheidenden Spiel gegen Wales in Köln erst Richtung WM schoss, wieder aufzumöbeln.
Eine Maßnahme war sicherlich auch der Einsatz mit seinem Kölner Kumpel Pierre Littbarski, mit dem er als Imitator der damals beliebten Kindersendung „Dingsda“ auftrat. Die beiden erfreuten mit ihren TV-Darbietungen eine große Fan-Schar und lockerten insgesamt die Szenerie auf. Das wird Häßler, dem eine empfindsame Natur eigen war und ist, sicher geholfen haben, sein kleines Tief zu überwinden.
Der FC schreitet ein … und blamiert sich
Vor dem Viertelfinale jedoch sorgte ein Vorfall im deutschen Lager für erhebliche Unruhe. Verantwortlich dafür: Der deutsche Vizemeister und Europapokal-Halbfinalist, also der 1. FC Köln. Die vollständige FC-Führung mit Präsident Dietmar Artzinger-Bolten an der Spitze reiste ins eigentlich abgesicherte WM-Quartier in Erba, bestellte den in Italien als Zeitungs-WM-Kolumnisten weilenden Christoph Daum zu sich ein und teilte dem völlig überraschten Trainer mit, dass er ab sofort nur noch der Ex-Trainer sei.
Aber die kölsche Abordnung ging noch einen Schritt weiter, rief in der Folge die Medien zur Pressekonferenz ins Quartier der Nationalmannschaft zusammen, um der Weltöffentlichkeit auf der DFB-Presseanlage mitzuteilen, was sie hier nun entschieden hatte. Ganz Deutschland schüttelte den Kopf über die “Geißböcke” und der gänzlich unwissenden DFB war wie vor den Kopf geschlagen und stinkwütend. Teamchef Franz Beckenbauer zeigte seine Meinung ganz offen und zürnte: „Das geht doch nicht. Ich wußte von nichts.“
Ein Viertelfinale – fast wie ein Vorbereitungskick
Vielleicht war diese Posse dann doch der Startschuss für einen anderen 1. FC Köln, einen der seit dieser Zeit oftmals Gelegenheiten fand und sogar erst schuf, um zum Chaosclub und Fahrstuhlverein zu werden. Doch zunächst zum weiteren Verlauf der Weltmeisterschaft: Das Viertelfinale gegen die CSFR war stimmungstechnisch der krasse Gegensatz zum Holland-Spiel. Hier brannte die Luft nicht, das wenig begeisternde Nachmittags-Match wirkte zwischenzeitlich fast wie ein Vorbereitungskick.
Die deutsche Elf sicherte sich letztlich den Sieg durch ein Elfmetertor von Lothar Matthäus. In Erinnerung geblieben sind vor allem die Tobsuchtsanfälle von Teamchef Franz Beckenbauer am Spielfeldrand. Der Kaiser konnte nicht mit der Art und Weise leben, wie sein Team nach der roten Karte von Lubomír Moravčík mit der Führung gegen die numerisch unterlegenen Tschechoslowaken agierte und zeigte auf seine ihm eigene Art und Weise offen seinen heiligen Zorn. Das Halbfinale war erreicht, aber die Stimmung war aufgrund der Umstände verhalten.
Das änderte sich dann beim Halbfinale gegen den alten Rivalen England in Turin, für das Franz Beckenbauer dem ob seines körperlichen Zustands verdutzt-unwissenden Pierre Littbarski eine Krankmeldung ausstellte und stattdessen Olaf Thon spielen ließ. Thomas Häßler hingegen war wieder dabei und der kleine FC-Regisseur drehte ordentlich auf. Bis zur seiner Auswechslung in Minute 66 zählte er auch im Nachgang bei der Fachpresse zu den eifrigsten und konstruktivsten deutschen Spielern, war selbstbewusst und traute sich viel zu. Doch Mann des Abends wurde ein anderer: Bodo Illgner!
Illgners Sternstunde & der Beginn von Englands Elfmeter-Phobie
Schon während des Spiels wurde der junge Kölner Torhüter mehr geprüft als in den fünf WM-Spielen zuvor und zeigte sich dabei ruhig und reaktionsschnell. Endlich konnte Illgner auch einige gelungene Paraden vorweisen. Gary Linekers Ausgleich zum 1:1 konnte er jedoch nicht verhindern, auch wenn ZDF-Reporter Dieter Kürten bei dieser Szene wohl die mediale Fehlinterpretation des Turniers unterlief („Torwart, wo bist du?“). Der Fehler lag jedoch eindeutig auf Seiten des Ex-Kölners Jürgen Kohler, der Lineker per verunglückter Abwehr den Ball unfreiwillig vorlegte.
Kein Torwart auf dieser Welt hätte an dieser Stelle „rauskommen müssen“, wie Kürten selbst bei der Wiederholung noch steif und fest behauptete und sich bei der Suche nach einer Bestätigung seiner These ein eisiges Schweigen bei seinem Co-Kommentator Otto Rehhagel abholte. In der Verlängerung trafen beide Team noch einmal den Pfosten, bevor es ans Elfmeterschießen ging. Hier war die Sorge auf deutscher Seite groß, wie auch Franz Beckenbauer in einer WM-Dokumentation später bestätigte: „Bodo ist die Nummer 1, ein großartiger Torhüter, aber eben kein Elfmeterkiller.“
Im Training hatte man das zuvor geübt, doch Illgner hinterließ dabei keinen guten Eindruck, Beckenbauer sprach gar von einer „einzigen Katastrophe“, womit er sicher übertrieb. Illgner hat natürlich keinen Spitzenplatz in der nationalen Elfmetertöter-Statistik der Bundesliga. Allerdings hat er von dreißig Elfmetern immerhin doch fünf abwehren können und teilt sich damit mit mehreren anderen Torhütern (unter anderem Timo Horn) den 55. Platz in der kompletten Bundesliga-Historie. Sicher nicht überragend, aber weit entfernt von katastrophal. Aber der “Kaiser” hat nun einmal hohe Ansprüche. Zu Recht!
Den wichtigsten Strafstoß seiner Karriere aber hielt Illgner in dieser Nacht von Turin. Er ahnte, wohin Stuart Pierce schießen würde, warf sich genau dorthin und konnte den Ball abwehren. Damit brachte er sein Team in den Vorteil und für England begann eine lange Leidenszeit der Elfmeter-Legasthenie. Der fünfte englische Schütze, Chris Waddle, senste den Ball dann auch noch in die Wolken und Deutschland stand im Finale. Dank Bodo Illgner!
Nah dran am kölschen WM-Siegtor
Die Geschichte des Finales gegen Argentinien ist ja eigentlich schnell erzählt, aber aus FC-Sicht muss eben doch noch einmal darauf hingewiesen werden, dass es erstmals gleich drei Spieler waren, die über 90 Minuten entscheidend mit beteiligt waren, den Titel zu sichern. Bodo Illgner, Thomas Häßler und Pierre Littbarski spielten 90 Minuten durch und beide Feldspieler, sowohl Littbarski als auch Häßler in den Schlussminuten, hatten große Chancen auf einen erfolgreichen Abschluss. Nach Littis Solo in Minute 46 fehlten bei seinem satten Flachschuss von der Strafraumgrenze nur ganz wenige Zentimeter.
Häßler hingegen hatte in Höhe des Fünf-Meter-Raums stehend übersehen, dass der argentinische Torwart Goycochea sich Richtung Mitte platzierte, um eine Flanke abzufangen, Häßler flankte dann tatsächlich anstatt das komplett freigewordene kurze Eck aus etwa fünf bis sechs Metern anzuvisieren. So aber bleibt Wolfgang Weber der einzige WM-Endspieltorschütze des 1. FC Köln, Weltmeister wurde der „Bulle“ 1966 aber leider nicht. Selten hat es ein so einseitiges WM-Finale gegeben, denn das im Endspiel stark ersatzgeschwächte Argentinien hatte sich schon mit seiner besten Formation mehr oder weniger durchs Turnier gemogelt, dabei aber immer einzelne Glanzpunkte durch Claudio Canniggia oder natürlich insbesondere durch Diego Maradona setzen können.
Der große Maradona war nicht mehr in der Glanzform von 1986, aber immer noch gut genug für manche Geniestreiche. Aber an diesem 8. Juli wurde er von Guido Buchwald beherrscht, er und sein Team erarbeiteten sich keine einzige echte Torchance. Kurzum: Sie waren chancenlos, dennoch brauchte die deutsche Elf einen schmeichelhaften Elfmeter, um sich zum dritten Mal die Krone des Weltfussballs aufzusetzen. Andreas Brehme verwandelte und ein ganzes Land versank im Freudentaumel dieser italienischen Nacht.