Deutschland diskutiert über die Schwalbe von Timo Werner – auch in unserer Redaktion gehen die Meinungen darüber auseinander. Kann man eine solche Aktion irgendwie vertreten oder ist sie zu ächten? Die ganze Diskussion in unserer Rudelbildung.
Gero Dieckmann: Mit dieser Fragestellung habe ich mich intensiv beschäftigt. Oftmals habe ich mich in früheren Jahren gefragt, was FC-Fans dazu gebracht hat, die eigenen Spieler auszupfeifen. Nie konnte ich das nachvollziehen oder teilen. In diesem Fall wäre es gänzlich anders: Dieser Grad an Unsportlichkeit ist durch Nichts zu entschuldigen – weshalb ich keine Ruhe geben würde, bis dieser Unwürdige statt in Müngersdorf irgendwo in Usbekistan oder Kamtschatka rumschwalben würde! Meine Hoffnung wäre ferner, dass ein solches Vergehen eine empfindliche vereinsinterne Disziplinarstrafe nach sich zöge.
Martin Gödderz: Ich denke mal, da muss man differenzieren. Im Stadion hätte ich mich vor allem erst einmal über einen Elfmeter gefreut, da nimmt man so etwas ja gar nicht so sehr wahr und im Nachhinein? Da tendiere ich eher zu Gero. Sowas gehört sich nicht. Dabei finde ich die Schwalbe nicht einmal schlimm, sondern sein Verhalten danach, wo er es noch nicht einmal richtig zugibt und den Daumen hebt. Man kann in der Hitze des Gefechts ein Foul vortäuschen, doch man kann auch dazu stehen. Werner kann sich mal das Tape vom Spiel zwischen der Hertha und dem BVB in dieser Saison ansehen, wo Langkamp nach dem Spiel selbst schockiert von seiner eigenen Schauspieleinlage ist. Ich bin also generell auch strikt dafür, dass ein derartiges Verhalten bestraft würde und bin mir sehr sicher, dass es wenig gäbe, was Peter Stöger schlimmer fände bei einem eigenen Spieler zu sehen. Dennoch folgendes Szenario: Abstiegskampf, eventuell ein Relegationsspiel, 90. Minute, der effzeh kriegt durch sowas den entscheidenden Elfmeter, der zum Klassenerhalt verwandelt wird. Ich würde den Spieler hassen, aber ich wäre trotzdem froh, dass er es gemacht hat.
Arne Steinberg: Die eigentliche Schwalbe an sich ist schon ziemlich fragwürdig, keine Frage. Im Eifer des Gefechts und unter Einfluss von Adrenalin mal eine falsche Entscheidung zu treffen, ist sicherlich nicht komplett entschuldbar, aber zumindest in Teilen nachzuvollziehen. Viel schlimmer als die eigentliche Aktion ist allerdings die Art und Weise, wie die Verantwortlichen im Anschluss damit umgehen. Dies gilt sowohl für den Delinquenten Werner als auch für seine sportlich Vorgesetzten, Hasenhüttl und Weinzierl. Ein wenig mehr Ehrlichkeit und Mut, eine unbequeme Wahrheit auch mal anzusprechen, wäre wünschenswert gewesen. So bleibt für Red Bull ein weiterer Imageverlust. Erinnert sei an dieser Stelle auch an die “Handreasen”-Affäre im Vorjahr: Frontzeck und Andreasen haben sich da nicht nur in Köln unbeliebt gemacht.
Martin Gödderz: Deswegen glaube ich auch nicht, dass wir uns diese Frage bei unserem aktuellen Team stellen müssen. Stöger hat seine Jungs im Griff und würde solche Unsportlichkeiten niemals durchgehen lassen. Natürlich greift ein Spieler auch nicht so schnell zur Schwalbe, wenn er weiß, dass sein Trainer so etwas hasst. Bei Hasenhüttl wurde schon relativ deutlich, dass er es eben als Mittel zum Zweck gesehen hat.
Gero Dieckmann: Alleine bei dem Gedanken, dass diese Situation bei der Relegation auftreten könnte, dreht sich mir der Magen um. Hier ist schleunigst der Videobeweis gefordert – und tatsächlich auch die Rote Karte für den betreffenden Spieler. Womöglich bzw. höchstwahrscheinlich wäre meine emotionale Lage im Stadion eine andere – aber spätestens bei der darauffolgenden Rudelbildung würde ich genau diese Position vertreten. “Handreasen” war eine Unsitte, “Schwalben-Werner” ist es genauso. In beiden Fällen gibt es kein Nachspiel im Sinne einer mehrwöchigen persönlichen Sperre. Was falsch war bei Andreasen, ist falsch bei Timo Werner.
Thorsten Neunzig: Fehlentscheidungen gehören doch zum Spiel! Manche sind zu vernachlässigen, andere haben starke Auswirkungen. Was würdet ihr denn vorschlagen, wenn ein Spieler einen anderen foult und der Schiri pfeift nicht? Soll der nicht nachgehen, stehen bleiben? Winken? “Schiri, ich hab Foul gemacht!” Blödsinn. Im Spiel kämpft man mit allen Mitteln. Das machen wir doch im Amateursport genau so. Geschenkter Elfmeter? Mitnehmen. Rote Karte für den Gegner, weil ich ihn ordentlich provoziert habe? Mitnehmen. Mein Lieblingsspiel: Trashtalk. Bis an die Grenze. Aber eben nicht darüber. Im Spiel bestimmt der Schiri die Grenze. Danach die eigene Moral. Über die Moral anderer zu urteilen? Nicht mein Fall. Ich hätte nach dem Spiel zugegeben, ja Schwalbe. (Punkt) Der Rest spiegelt nur die Farce wieder mit der dieser “Verein” geführt wird, das wirkt sich auch auf die Angestellten aus. Und Frontzeck und Adnreasen haben sich dagegen beachtlich aus der Affäre gezogen.
Gero Dieckmann: Fehlentscheidungen gehören zum Spiel? In einer gewissen Ausprägung stimme ich Dir zu. Der Schiri bestimmt die Grenze? Im Prinzip ok, dann kommen wir bei einer generellen Schiri-Diskussion, bspw. beim Videobeweis, an. Die eigene Moral bestimmt die Grenze? Einverstanden – dann ist Timo Werner, wie ich in erster Reaktion während der Partie bei Facebook lesen durfte, eine Schande für den deutschen Fussball. Ich tue mich extrem schwer mit diesen abmildernden Aussagen, denn alles – wirklich alles! – sollte Grenzen haben. Nach dem 0:8 im DFB-Pokal habe ich 2003 als Fan mit Stolz von meinem Trip nach München berichtet. Nach einem unsäglichen 0:2 beim VfR Aalen in den Niederungen der 2. Liga habe ich 2012 voll Stolz tags darauf das FC-Trikot mit ins Büro genommen. Nach einem solchen Ding – Elfmetertor in der 1. Minute aufgrund einer solch unnötigen vorsätzlichen Unsportlichkeit – welches dann auch noch Vereinsverantwortlichen gedeckt wird und nachfolgendem 2:1-Sieg, würde ich als Fan am liebsten im Erdboden versinken. Dass der Leipziger Trainer nach dem Spiel auch noch meint, dass es sich nicht um eine spielentscheidende Szene gehandelt habe (schließlich habe Schalke ja noch ausgeglichen), ist an Irrsinn kaum zu überbieten! Timo Werner “verdient” die Rote Karte in der 1. Minute und RBL spielt 89 Minuten in Unterzahl – peng! Es geht mir in diesem Moment nicht darum, dass ich eine klare Haltung zum RB-Konstrukt habe – meine Überzeugung wäre identisch, wenn es sich um einen würdigen Bundesligavertreter handelte.
Thorsten Neunzig: Primär macht es doch gar keinen Unterschied, ob es sich um ein Konstrukt namens Leipzig oder einen richtigen Fußballclub handelt. Das ist doch nur schmückendes Beiwerk. In meinen Augen ist wichtig, zwischen adrenalingeladenen Spielsituationen und Reflektionen nach Abpfiff zu unterscheiden. Ich finde auch Interviews direkt nach Abpfiff grenzwertig. In jedem Spiel passieren Dinge, die man sich besser mal nüchtern anschaut und dann erst dazu Stellung bezieht. Und noch mal: wenn ich von einem Spieler erwarte, dass er bei einem zu Unrecht gegebenen Elfmeter den Schiri informiert, dann muss ich auch erwarten, dass ein Spieler beim nicht gepfiffenen Foul automatisch die Hand hebt. Ist doch absurd! Und dann sollte man auch das Alter des Spielers berücksichtigen. Timo Werner ist noch sehr jung, und auch wenn ich ihn persönlich nicht sympathisch finde, möchte ich ihn hier ein wenig in Schutz nehmen. Ich war auch mal jung!
Auf Seite 2: Mondragon, der Schiedsrichter und Bestrafungsmöglichkeiten.
Thomas Reinscheid: Ich weiß nicht, ob man sich als effzeh-Fan da so weit aus dem Fenster lehnen sollte. Wir haben alle noch Petit und Mondragon im Gedächtnis, deren Aktionen auch teilweise weit über die Grenze des Erlaubten hinausgingen. Ich erinnere mich da beispielsweise an ein Spiel in Mainz, als der gute Faryd Jesus in der 27. Minute eine (längst überfällige) Gelbe Karte wegen Spielverzögerung bekommen hat. Ich glaube auch nicht, dass jemand Milivoje Novakovic böse war, als er in Stuttgart ziemlich leicht zu Fall kam. Das macht die moralische Entrüstung über Werner nicht weniger glaubwürdig, man sollte aber mit solchen Sachen wie “Liebesentzug” etc. vorsichtig sein. Beschämender als das Verhalten auf dem Platz ist allerdings das Verhalten danach: Bis auf Hasenhüttl (wahrscheinlich wegen seiner effzeh-Vergangenheit noch charakterlich gesund) war das einfach nur zum Fremdschämen, was da von sich gegeben wurde. Jedes weitere Wort über solch einen Kasper wie Ralf Rangnick, dessen Verhältnis zur Wahrheit ja ähnlich ist wie das von Werner zum Fair-Play, ist überflüssig. Was mir aber zu kurz kommt: Es war wieder Bastian Dankert, den wir alle noch vom Handröösen-Vorfall in bester Erinnerung haben. Hat sowas eigentlich mal Konsequenzen für einen Schiedsrichter?
David Schmitz: Man sollte auch nicht vergessen, dass unser Topstürmer vor kurzem auch mal etwas arg theatralisch zu Boden gegangen ist, wenn ich mich richtig erinnere. Beides sind Unarten, auch wenn das Abheben ohne Kontakt noch einmal verwerflicher ist, als das theatralische Ausnutzen eines ebensolchen. Aber na ja: Red Bull verleiht Flügel.
Thomas Reinscheid: Sehr, sehr grau ist diese Zone zwischen “clever” und “unfair”. Wenn Fährmann die Hände nicht direkt wegnimmt, trifft er Werner – und jeder redet darüber, dass er das Foul gut gezogen hat. Bleibt vor allem das Dilemma, dass sowas mehr lohnt als Standfestigkeit. Das Risiko ist gering, der mögliche Ertrag (wie in diesem Fall) riesig.
David Schmitz: Ja, und in drei Monaten interessiert es auch eben niemand mehr, ob Schwalbe oder nicht. Mit diesem Syndrom muss der Fußball – im Gegensatz zu den meisten anderen Sportarten – offenbar leben. Dass man sich auf dem Platz nicht gerade macht ist das eine, das was Leipzig aber danach abgeliefert hat – das ist die eigentliche Blamage. Rangnick raus, Videobeweis rein!
Thomas Reinscheid: Aber muss der Fußball damit leben? Warum ist das in anderen Sportarten nicht derart ausgeprägt und akzeptiert? Im Eishockey gibt es dafür, wenn ersichtlich, zwei Minuten, selbst bei einem gleichzeitigen Foul des Gegners. In der NBA wirst du für Flopping mit Geldstrafen belegt. Nur im Fußball scheint es irgendwie dazu zu gehören.
David Schmitz: Warum das so ist, weiß ich auch nicht. Aber solange z.B. in der Sportschau beim Özbek-“Ausraster” in der 3. Liga nur von “im Stile Bud Spencers” in Bezug auf die Gesichtsgrabscher berichtet wird, aber nicht erwähnt wird, dass die Lotte-Spieler reihenweise in peinlichster Art und Weise zu Boden gehen, wird sich das wohl auch nicht ändern.
Gero Dieckmann: Wenn das im Fußball dazugehört und auch für Euch, die ich Euch allesamt sehr schätze, zwischen akzeptabel und “na ja” liegt, befinde ich mich in meiner Klarheit offenbar alleine am extremen Ende der Fansicht.
Thomas Reinscheid: Nein, ich finde das genauso scheiße wie du. Nur: Wenn du das so extrem siehst, sollte das auch für die Mondragons der Nation gelten – das war mein Punkt dabei. Ohne eine öffentliche Ächtung dieses Heulsusen-Verhaltens wird es nicht gehen.
David Schmitz: Aber nur durch Fremdscham ändert sich bei den Spielern eben auch nichts. Es braucht auch eine Ächtung – von der Liga, von Mitspielern, vom Trainer. Und nachträgliche Sperren.
Thomas Reinscheid: Ja. Vielleicht hat das Ganze ja auch etwas Gutes: Da es RB betrifft, potenziert sich die Abneigung gegen ein solches Verhalten. Vielleicht ist damit ein Anfang zu einer solchen Ächtungskultur gemacht.
David Schmitz: Und in fünf Jahren rühmt sich Rangnick dann damit, dass Leipzig und er Vorreiter der Ächtungskultur waren.
Gero Dieckmann: Memo an mich: Nehme beim nächsten Flug den Kotzbeutel mit nach Hause – Du könntest ihn bald brauchen!