Das kommt durchaus überraschend: Der Deutsche-Fußballbund hat in Person von Präsident Reinhard Grindel erklärt, in Zukunft auf Kollektivstrafen verzichten zu wollen. So logisch das für Kritiker dieser Sanktionen auch klingen mag, gemessen an der unerschütterlichen Statik des Verbands, kommt der Vorstoß einem kleinen Erdbeben gleich.
„Bis auf Weiteres“ wolle man „keine Sanktionen wie die Verhängung von Blocksperren, Teilausschlüssen oder Geisterspielen mehr“, sagte Grindel in einer am Mittwoch veröffentlichten Erklärung. Zwar bleibe die Unabhängigkeit der DFB-Sportgerichtsbarkeit davon unberührt, die Richter müssen sich also nicht an die Empfehlung halten, dennoch empfehle man dem Kontrollausschuss, „darauf zu verzichten, Strafen zu beantragen, die unmittelbare Wirkung auf Fans haben, deren Beteiligung an Verstößen gegen die Stadionordnung nicht nachgewiesen ist”, erklärte der DFB-Präsident.
Damit, so scheint es, nimmt der DFB einer Debatte, die in unkontrolliert stürmische Gewässer abzudriften schien, kurz vor dem Bundesligastart ein wenig den Wind aus den Segeln. Schließlich sind die sogenannten “Kollektivstrafen” einer der ganz zentralen Kritikpunkte der aktiven Fanszenen in ganz Deutschland. Übrigens zurecht: Auch im Stadion sollte nur derjenige bestraft werden können, dem eine Verfehlung zweifelsfrei nachgewiesen werden kann.
Kollektivstrafen verstoßen gegen juristische Grundsätze
Mit der hilflosen Maßnahme der Kollektivstrafen zeigte sich lediglich, wie verzweifelt man in der Frankfurter DFB-Zentrale nach einem Weg gesucht hat, mit dem Protest der Kurven umzugehen. Dass man sich dabei in die Rolle des vermeintlich strafenden “Vaters” der vermeintlich verzogenen “Kinder in den Kurven” begeben und von oben herab agiert hat, machte die Sache ebenfalls nicht besser. Ein Dialog fand schon ewig nicht mehr statt.
“Die Ultras” wurden zur pauschalisierten Masse, die man am liebsten einfach in der “Alles Verbrecher”-Ecke abstellen wollte. Das erwies sich allerdings als keine gute Taktik. Die aktiven Fanszenen sind eben doch zu mehr im Stande als ein bisschen Feuerwerk und Prügelei. Und auch wenn sie untereinander teilweise tief verfeindet sind, gelingt es ihnen, sich für eine größere Sache zu organisieren und dabei auch andere Stadionbesucher mitzureißen.
Die Halbzeitshow mit Helene Fischer im DFB-Pokalfinale geriet deshalb zum Desaster – nicht nur die Ultras beider Vereine pfiffen die Sängerin gnadenlos nieder. Und spätestens nach den ersten Spielen der neuen Saison wurde klar: “Scheiss DFB”-Wechselgesänge beider Fanlager scheinen zur Normalität in deutschen Stadien zu werden.
Breitgefächerter Protest, zündelnde Medien
Zusätzlich spielte sich zuletzt auch noch eine große, nicht allzu lesenswerte Boulevardzeitung mal wieder zum Ultra-Jäger der Nation auf und blähte alles rund um die ominöse “Gefahr in deutschen Stadien” so weit auf, wie es eben ging. Halt machte die “BILD”-Redaktion dabei übrigens auch vor dem DFB nicht mehr. So schrieb das Springer-Blatt unlängst, DFB-Vizepräsident Rainer Koch sei bei einem Treffen mit Ultra-Vertretern in Dresden bedroht worden und probierte so die Debatte weiter anzuheizen. Die Behauptung ist allerdings eine glatte Lüge. “Ich habe allen Medien gegenüber unter Hinweis auf die Vertraulichkeit des Gesprächs bislang jede Stellungnahme zum Treffen abgelehnt und deshalb auch zu keinem Zeitpunkt und an keiner Stelle erklärt, in diesem Gespräch persönlich bedroht worden zu sein”, stellte Koch mittlerweile klar. “Übrigens auch deshalb nicht, weil ich gar nicht bedroht worden bin.“
Dennoch scheint das Treffen in Dresden, das eigentlich als Unterredung mit lediglich drei Ultra-Sprechern der Dynamo-Szene gedacht war, dann aber mit der Teilnahme von über 50 Ultra-Vertretern aus ganz Deutschland endete, eine gewisse Wirkung beim mächtigen Verband entfaltet zu haben. Dass die DFB-Männer bei dem Treffen tatsächlich erstmals ein gewisses Grundverständnis für die Kritikpunkte der Szene entwickelt haben, kann man sicherlich noch bezweifeln. Trotzdem scheint den Entscheidern in Frankfurt bei dem Treffen zumindest klar geworden zu sein, dass es nicht bei vereinzelten Protesten bleiben würde, sollte der DFB seine Strategie der harten Hand weiter durchsetzen.
Die scheinbare Konsequenz: Der größte Fußballbund der Welt geht seit Jahren erstmalig wieder einen Schritt auf die Kurven zu. Denn auch beim DFB dürfte man wissen, dass die leidenschaftliche Stadionatmosphäre, die eben vor allem von den aktiven Fanszenen gewährleistet wird, eine der Hauptattraktionen der Bundesliga auf dem internationalen Markt ist. Das deutsche Fußball-Premiumprodukt verkauft außerhalb seines Kernmarktes eben nicht mit Star-Spielern wie Cristiano Ronaldo, Lionel Messi oder Neymar, sondern mit ausverkauften Fußballtempeln, in denen ein Fußballspiel noch ein Erlebnis ist, bei dem man selbst am TV-Gerät noch merkt, dass die Stimmung im Stadion im Vergleich zu den anderen Topligen ihres Gleichen sucht.
Die Füße auf den richtigen Weg gesetzt
Dass “die Ultras” – auch wenn Einzelne den Ruf einer der größten Subkulturen in Deutschland mit dummen Aktionen immer wieder in Verruf bringen – deshalb mit ihren Kritikpunkten wie überbordender Kommerzialisierung, merkwürdigen Anstoßzeiten und Kollektivstrafen eben nicht alleine dastehen, scheint in Frankfurt nun langsam angekommen zu sein.
Ob es sich dabei um ernsthaftes Lösungsinteresse oder nur um kosmetischen Aktionismus zum Schutz des Verbandes handelt, wird sich allerdings nun erst einmal zeigen müssen. Genauso übrigens wie die Reaktion der Kurven auf diese ausgestreckte Hand – nach zuletzt immer lauteren Gesängen und krasseren Verfehlungen wie bei der Pokalpartie zwischen Berlin und Rostock, wird sich vielleicht schon am Wochenende zeigen, ob beide Seiten wirklich am Dialog interessiert sind. Klar ist aber auch: Der DFB hat in der Vergangenheit schon einmal den Dialog mit den aktiven Fanlagern gesucht – und ihn dann ziemlich unverschämt platzen lassen. Mit allzu viel Vertrauen darf man in Frankfurt daher erst einmal nicht rechnen.
Doch aus welchen Gründen und mit welchem Ergebnis auch immer, zunächst muss man festhalten, dass der mächtige Verband mit seinem Verzicht auf Kollektivstrafen heute einen großen Schritt gemacht hat – zumindest gemessen an seinem Verhalten in den letzten Jahren. Für die Debatte bleibt es dennoch ein kleiner. Mit der Rückkehr zum Dialog und ersten Signalen der Kompromissbereitschaft hat man die Füße zwar auf den richtigen Weg gesetzt, gehen muss man ihn aber immer noch. Und dieser Weg wird kein leichter sein.