Seit Jahrtausenden ist das Stadion mit Faszination, Glaube und Leidenschaft verbunden und bildet gewissermaßen einen sozialen und gesellschaftlichen Knotenpunkt, indem kulturelle und politische Verschiedenheiten miteinander verschwimmen. Es geht nicht nur noch um Sieg oder Niederlage, sondern auch um Emotionen, Zusammenhalt und Rivalität. In seiner heutigen Form sind Stadien insbesondere hochmoderne, funktional variable Zentren von Entertainment und Wettkampf, die wöchentlich Menschenmassen anlocken und begeistern.
Doch warum hat das Phänomen Stadion eine derartige Strahl- und Anziehungskraft im Fußball und welche (ungenutzten) Potenziale birgt es? Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass das Phänomen bereits vor Jahrtausenden begonnen hat und seitdem seine eigene Erfolgsgeschichte schreibt. Historischen Überlieferungen zufolge definierte sich der Begriff Stadion als altgriechische Maßeinheit, die in etwa 192,28 Meter entsprach und mit der heutigen Funktion wenig gemein hat.
Seit Ewigkeiten ein wichtiger sozialer Ort
Dennoch sind die Ursprünge der Olympischen Spiele in Griechenland als Startschuss der Stadionkultur zu nennen. Erste Aufzeichnungen und Belege gehen bereits 700 Jahre v. Chr. zurück. In den folgenden Jahrhunderten war das Stadion stets ein wichtiger sozialer Ort, wenngleich die Anlässe und Wettkämpfe variierten. Seit jeher hat der Mythos Stadion jedoch jeden Widrigkeiten getrotzt und sich in der Gesellschaft etabliert. Kriege oder politische Instabilitäten, kulturelle oder ethnische Auseinandersetzungen, Rezessionen oder Inflationen. Die Liste ist lang, doch das Stadion hat alles überlebt, sich weiter entwickelt und ist auf die Bedürfnisse der Menschen eingegangen.
Sein Erfolgsrezept ist die freie Hysterie der Menschen, die Unbekümmertheit und der Gegenpol zum festgefahrenen Alltag. Das Stadion ist ein einzigartiger Ort, indem eines besonders sichtbar wird: Wenn man Hand in Hand zusammenarbeitet, sich gegenseitig unterstützt, dann ist die Masse unschlagbar. Es ist wie eine riesige Gruppe aus kleinen Arbeitern, die alleine nur sehr wenig erreichen können, doch in der Breite wird ihre unaufhaltsame Stärke sichtbar. Jedes Kind, das erstmals mit einem Elternteil ins Stadion geht, kennt dieses Gefühl – auf den Rängen zu sitzen und das Stadion in seiner Vollkommenheit und Gänze zu erleben, zu fühlen und zu lieben.
Jeder einzelne ein Mosaikstein im großen Gebilde
Das erste Mal die Hymne mitsingen und spüren, welche Kraft in dem Verein steckt. Das Gefühl, wenn 50.000 im Stadion dieselben Lieder singen und grölen. Die erste zuvor nie erlebte Gänsehaut am ganzen Körper, die schubweise immer stärker wird und im wahrsten Sinne des Wortes bis in die Haarspitzen motiviert. Diese Lautstärke und Leidenschaft, dieses Wir-Gefühl, das man kaum an einem anderen Ort derart erleben kann. Eine Welle aus Farben, Gesängen, Emotionen und Zusammenhalt walzt über die Ränge und über den Platz – es lässt alles andere vergessen. Der Alltag wird zurück gelassen und einfach weggespült. Loslassen und genießen.
Hinter dem Zusammenhalt steckt aber noch eine andere Botschaft: Soziale, politische und gesellschaftliche Differenzen sind vorerst kein Thema. Die Ultragruppierungen und Fangruppen haben sicherlich verschiedene politische Einstellungen und präsentieren diese auch gerne mit einzelnen Bannern, Plakaten oder auf Fahnen. Die Meinungen über Geschehnisse im Verein oder Grundsatzeinstellungen sind verschieden und gleichzeitig völlig normal. Wenn jedoch der Capo das nächste Lied oder den Schlachtruf anstimmt, dann hält die ganze Kurve zusammen und steht hinter dem Verein und der Mannschaft. Alles andere scheint vergessen.
“Egal aus welcher sozialen Schicht man kommt, wie viel Geld man besitzt, wie viele Freunde man hat – es ist völlig irrelevant.”
Und dabei ist jeder Einzelne ein Mosaikstein im großen Gebilde – Stein um Stein fügt es sich zusammen. Egal aus welcher sozialen Schicht man kommt, wie viel Geld man besitzt, wie viele Freunde man hat – es ist völlig irrelevant. Das Einhaken mit dem (teilweise völlig fremden) Nebenmann ist sicherlich die symbolträchtigste Aktion. Eine Situation völlig fern vom Alltag, denn man geht eine intime, körperliche Nähe zu einer Person ein, die man bisher nie gesehen hat und womöglich zukünftig auch nicht mehr kennen lernen wird.
Das Stadion: Schmelztiegel gesellschaftlicher Unterschiede
Darin liegt die Kraft und Faszination dieses Phänomens. Hier schaut keiner, wer du bist, wie du aussiehst oder wo du herkommst, hier steht die Mannschaft über den sozialen und gesellschaftlichen Kontroversen. Das Stadion als Schmelztiegel von kulturellen, sozialen, gesellschaftlichen und politischen Unterschieden. In diesem Punkt liegt das enorme, noch größtenteils ungenutzte Potenzial des Fußballs. Aufgrund seiner Strahlkraft und gesellschaftlichen Bedeutung kann der Sport diese Barrieren auflösen und miteinander verschmelzen.
Im Zuge dessen hat beispielsweise die DFL eine Stiftung hervorgerufen, die sich mit der Fragestellung auseinandersetzt. Seit 2010 besteht die Initiative Lernort Stadion, in welcher Integration und Teilhabe als zentrales Gedankengut im Vordergrund stehen. Die Schüler lernen und diskutieren an einem besonderen Ort: im Fußballstadion. Die Auseinandersetzung mit Themen wie Toleranz, Miteinander, Fair-Play im Klassenraum, Antidiskriminierung, Gewaltprävention oder Homophobie stellen essentielle Unterrichtsinhalte dar.
„Ein Gewinn für die ganze Gesellschaft“
Lernort Stadion nutzt die besondere Atmosphäre von Fußballstadien, um Jugendliche für gesellschaftliche Themen zu begeistern.
Das Projekt der #DFL Stiftung hat in zehn Jahren bereits 60.000 Jugendliche erreicht ➡️ https://t.co/VaeTubAyCM pic.twitter.com/6BObjaWU8u
— DFL Deutsche Fußball Liga (@DFL_Official) August 28, 2019
Demnach definiert sich der Auftrag durch die Diskussion politischer Fragestellungen und die Vermittlung demokratischer Werte. Man nutzt das Potenzial des Fußballs, um junge Menschen zu erreichen, die anschließend Denkanstöße über heutige politische Kontroversen und sozial-gesellschaftliche Themen erhalten. Insbesondere junge Menschen, die sich weniger von politischer Bildung angesprochen fühlen, bilden die Zielgruppe der Initiative. Aktuell gibt es bereits bundesweit 20 verschiedene derartige Lernorte, 40 Bildungsmodule sowie 60.000 erreichte Jugendliche im Jahr.
Vereine erkennen gesellschaftliche Verantwortung
Auch auf Vereinsebene ist seit Jahren ein stetiger Anstieg der gesellschaftlichen Verantwortung zu erkennen. Blickt man auf die Vereine der Bundesliga und 2. Bundesliga, so wird deutlich, dass der Begriff Corporate Social Responsibility (CSR), ein freiwilliger Beitrag des Vereins zu einer nachhaltigen Entwicklung, öffentlichkeitswirksam vermarktet wird. Neben sozialen und gesellschaftlichen Themen werden auch ökologische Fragestellungen aufgenommen und an die Fans getragen. Nachhaltigkeit und das gesellschaftliche Miteinander stehen im Zentrum der Aufgabenstellungen.
Der Fußball hat es also selbst in der Hand, die Potenziale sind beinahe unendlich, denn einen derart durchmischten Begegnungsraum kann kaum ein anderes gesellschaftlich wirksames Thema erreichen. Das Stadion als soziales Auffangbecken für jedermann. Und während sich auch das Stadion über die Jahrhunderte an die Bedürfnisse und Anforderungen der Zeit angepasst hat, stand eines immer im Vordergrund: Auch der einfache Bürger sollte die Möglichkeit haben, einen Besuch im Stadion zu erleben. Ein Erlebnis, das nicht nur den Reichen vorbehalten war, sondern nahezu jeder erleben konnte.
Nutzt endlich das enorme Potenzial!
Die jüngsten Entwicklungen in den europäischen Topligen zeigen jedoch eine Abkehr von diesem Grundsatz. Der Kapitalismus und die milliardenschweren Investitionen, insbesondere in England, haben den Fußball verändert. Der Leidtragende ist zumeist der einfache Fan, der seinen Verein im Stadion erleben will und mitverantwortlich ist für dieses einzigartige Erlebnis. Und hier liegt der Kraft des Sports: der benachteiligte, sozial schwächere Bürger hat eine Plattform, indem er sich mit allen anderen Gesellschaftsmitgliedern austauscht und an Kontroversen beteiligt. Gewisse Themen können nur hier zur Sprache kommen und insbesondere aufgrund der Masse einen nachhaltigen Beitrag zum Diskurs leisten.
Der Fußball muss in Form der Vereine und Verbände Verantwortung übernehmen und einen uneingeschränkten Zugang gewährleisten. Bisher steckt das soziale Engagement der Vereine noch in den Kinderschuhen und versteckt sich oftmals hinter den wirtschaftlichen und kommerziellen Zielen. Die stetige Professionalisierung des Sports lässt demnach nur einen Auftrag zu: Nutzt endlich das enorme Potenzial dieses Sports, denn es gibt kaum einen Ort, der unsere Grundwerte und das Zusammenleben so fördern kann wie der Fußball. Es wird Zeit, dass sich noch mehr zu der damit einhergehenden Verantwortung bekannt wird.