Der deutsche Sportjournalismus hat es schwer. Jedenfalls muss man das denken, wenn man die vergangenen Wochen Revue passieren lässt. Nachdem die moralischen Wächter der Sportwelt sich bereits so eilig wie heldenhaft im Zuge der Ausschreitungen in Dortmund vor das Daueropfer RB Leipzig in Steine und Kugeln geworfen haben und einige Tage später auf Sky90 mit einer peinlichen Dauerwerbesendungen nachlegten, kam nun die nächste Profilierungsmöglichkeit: die Stoffwechselerkrankung von Mario Götze, die einigen Akteuren Gelegenheit bietet, einen neuen Sebastian Deisler herbeizuschreiben.
Doch der Reihe nach: Mario Götze ist im Sommer 2016 vom FC Bayern zurück zu Borussia Dortmund gewechselt. Seitdem hat er in der Bundesliga elf Spiele bestritten, davon insgesamt vier über die volle Distanz. Er erzielte ein Tor und gab einen Assist. Die sportlichen Erwartungen hat er bislang nicht erfüllt, genauso wenig wie Andre Schürrle, der den BVB erheblich mehr Geld kostete. Während der in effzeh-Kreisen als “Blumenkohlohr” bekannte Schürrle jedoch in der Öffentlichkeit unterhalb des Radars flog, stand Götze stets im Rampenlicht. Der einstige WM-Held, der Germany 2014 great again machte, musste sich Fragen zu seinem Fitnesszustand gefallen lassen, in physischer wie psychischer Hinsicht. Dann vor ein paar Tagen der Schock: das “uneingelöste Versprechen des deutschen Fußballs” (SZ) leidet an einer Stoffwechselerkrankung.
Die einen zu Ärzten, die anderen zu Matthäus
Pflichtbewusst schritten also die Herren der schreibenden Zunft zur Tat. Vorab: die SZ veröffentlichte heute, dass Götze an einer Myopathie leiden soll. In üblicher journalistischer Diskretion und mit dem obligatorischen Hinweis, dass er eigentlich auch nicht wisse, ob das Kolportierte nun stimme oder nicht, führt Autor Hannes Charisius aus: “Bei einer Myopathie, wie sie Götze haben soll, handelt es sich um Erkrankung der Muskulatur, die mit Störungen im Energiestoffwechsel zusammenhängen kann. Manche dieser Myopathien treten häufig auf, werden aber meist nicht bemerkt: Die Symptome bei den Krankheitsvarianten fallen oft harmlos aus, etwa als Schwäche bei Belastung oder als Muskelkrämpfe. Für Normalbürger ist das höchstens etwas lästig, für Spitzensportler hingegen ein ernstes Problem, da ihre Muskulatur viel stärkeren Belastungen ausgesetzt ist.”
Da die allgemeine Neugier nun befriedigt ist und es allen wieder gut geht, weil man ja weiß, woran Götze laboriert, könnte man ja nun aufhören, zu schreiben. Für ihn ist das natürlich ganz schrecklich. Denn was dem Fußballer die Myopathie ist, ist dem Normalbürger die Beinamputation.
Bei der Sportpresse konnte man in den letzten Tagen nicht nur allerlei Indiskretionen und intellektuelle Ausfälle beobachten (“Millionensummen zahlten die Vereine für Sie. Jetzt sind Sie krank.” (Franz-Josef Wagner), sondern auch erneut, dass sie jeden dahergelaufenen “Experten” befragten, um den “schwer kranken” Götze irgendwie thematisieren zu können. Dabei war die Wortwahl mancher Medien so drastisch, dass einem beim Lesen diverser Artikel kalte Schauern über den Rücken liefen. Götze habe es mit “einem unfairen Gegner”, dem “eigenen Körper” zu tun (F.J. Wagner), auf Beistand durch seine Freundin könne er auch kaum zählen, da die “beruflich viel unterwegs”, unter anderem bei “Let’s Dance” sei (Bild), aber immerhin auch “eine realistische Aussicht, dass danach vieles besser sein wird (Sport1).” Und Sport-Bild weiß: “Die Krankheit sei heilbar, heißt es.”
Auf der nächsten Seite: Lother Matthäus und die gelöste Schuldfrage
Besondere Wendehalsfähigkeiten stellte wieder mal Lothar Matthäus unter Beweis, der Götze vor Wochen noch empfahl, nach China zu wechseln, weil er ja offensichtlich zu schwach für die Bundesliga sei. Nun, so Matthäus, müsse man seine Leistungen natürlich anders bewerten. Hinterher ist man nämlich schlauer als vorher und wenn man Lothar Matthäus heißt, sogar überhaupt nicht. Wenn die einen den nächstbesten Sportmediziner befragen, zitieren die anderen eben Lothar Matthäus.
Götze: Die gelöste Schuldfrage
Die deutsche Sportpresse wäre aber nicht die solche, wenn sie nicht auch sofort irgendeinen Schuldigen ausmachen müsste. Nun blieb Götze ja nicht mehr übrig, denn man kann zwar versuchen, ihn nach Asien zu schreiben, aber ihn nicht für die Krankheit verantwortlich machen. Also muss jemand anders her. Der ehemalige Handballbundestrainer Dagur Sigurdsson schrieb wissend auf Twitter, Götze habe “unglaublichem Druck von außen Stand halten müssen. Wir müssen alle davon lernen.” Aha, es ist der Druck von außen! Das hat auch Benjamin Kuhlhoff von der 11Freunde erkannt (wohlgemerkt, bevor das Detail Myopathie kolportiert wurde).
Schon im Untertitel seines rührseligen Lehrstücks in journalistischer Moral stellt er die halbrhetorische Frage: “Sind wir mitverantwortlich?” Wer “wir” ist und woran dieses “wir” “mitverantwortlich” sein soll, lässt der Autor nicht lang offen, die “Fußballnation” sei es, die sich “über Mario Götze das Maul zerriss”, weswegen er jetzt krank sei. Übersetzt bedeutet das: Götze ist krank, weil wir uns das Maul über ihn zerrissen haben. Im “wir” ist Kuhlhoff selbst aber nicht enthalten, denn er tut das schließlich nicht. Er nimmt nur die 11Freunde-typische Rolle des über den modernen Fußballzirkus kopfschüttelnden Betrachters ein, der einfach nicht anders kann, als die schrecklichen Zustände betroffen zu kommentieren.
Zum Würgen ist der Kommentar allerdings, weil er suggeriert, Götzes Stoffwechselerkrankung sei auf die (bisweilen tatsächlich aberwitzige) Kritik der Öffentlichkeit zurückzuführen. Implizit singt Kuhlhoff damit das Lied des psychisch kranken und labilen Götze – nur noch wesentlich lauter als seine Berufskollegen, weil er sie als vorausgesetzt darstellt und den Berufsstand darum bittet, bei Götze aus diesem Grund Milde walten zu lassen. Diese sozialarbeiterische Bevormundung wird dadurch ergänzt, dass Götze vorher als jemand beschrieben wird, der “schlau genug” ist, “um wenig später bereits zu wissen, dass das Stigma ‘WM-Held’ ein Leben lang an ihm kleben wird wie altes Kaugummi.” Götze, das Sensibelchen, vom Helden zum Kranken. Und das in nur zweieinhalb Jahren. Also ehrlich: Wer würde da nicht depressiv werden?
Um nicht missverstanden zu werden: Kuhlhoff hat selbstverständlich damit recht, wenn er moniert, dass die Medien und “Experten” gerade in Bezug auf Mario Götze in den vergangenen Monaten oft Anstand vermissen ließen und ihn als Schwächling darstellten. Wer es beim FC Bayern nicht schafft, muss schließlich ein labiler Naivling sein. Das Mantra des schwachen, anfälligen Götze jedoch nicht als solches zu kritisieren, sondern auf diese Weise wiederzugeben, ist mindestens genauso unangebracht wie das Einholen und Veröffentlichen der Meinung von Lothar Matthäus. Das hat Mario Götze wirklich alles nicht verdient.