Ein Gastbeitrag von Felix Tamsut
Ich vermisse Fußball. Ich vermisse alles daran. Derart, dass es mir fast schon körperliche Schmerzen bereitet. Ich vermisse das Gefühl, morgens aufzuwachen und zu wissen: Heute ist Spilldaach! Ich vermisse die Anreise Richtung Müngersdorf in einer prallgefüllten Linie 1 lauter FC-Fans, die schon den einen oder anderen über den Durst getrunken haben. Ich vermisse es, auszusteigen und von dem Wort “STADION” begrüßt zu werden – auf einem Weg voller Anhänger, die ins Müngersdorfer Stadion strömen.
Ich vermisse den Geruch der Buden am Wegesrand, von Reibekuchen, Bratwurst und Bier. Ich vermisse das Gefühl, so viele Menschen, die ich kenne und liebe, an einem Ort zu wissen. Gemeinsam in der Südkurve zu stehen. Gemeinsam 90 Minuten Leidenschaft, Emotionen und Wahnsinn zu erleben. Aber auch gemeinsam über den persönlichen Alltag abseits des Stadions zu philosophieren. Und ich kann kaum glauben, dass ich das jemals sagen würde, aber ich denke, ich vermisse sogar die nervigen Werbebotschaften im Stadion rund um das Spiel.
Mehr als nur “Jeföhl”: Der Fußball als Heimat
Ich bin nicht hier geboren, ich habe keine Familie in Köln. Die Anzahl meiner Freunde leidet unter der Tatsache, dass ich im Vergleich zu vielen in der Stadt großgewordenen nicht die Zeit hatte, derart viele persönliche Kontakte aufzubauen. Nicht falsch verstehen: Ich bin extrem dankbar für jeden Freund, den ich habe. Aber nach nur knapp vier Jahren in dieser Stadt ist mein soziales Umfeld vermutlich deutlich kleiner als das des Durchschnittskölners.
Und da kommt der Fußball und der 1. FC Köln ins Spiel: Von dem Moment an, als ich Mitglied des FC-Fanclubs Definitionsmacht Colonia wurde, fühlte ich mich in dieser Stadt angekommen. Erstmals in einer längeren Zeit hatte ich das Gefühl, dass ich einer Gruppe zugehören, die für mich da ist. Egal, ob es um Fußball geht oder um andere Belange. Und es war beiweitem nicht nur ein “Jeföhl”: Meine Fanclub-Kollegen:innen haben mir in zahlreichen privaten Dingen geholfen – vom Umzug bis zum Umgang mit ausländerfeindlichen Nachbarn.
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Ohne Fußball, ohne den 1. FC Köln hätte ich kein Umfeld voller umwerfender Menschen, die für mich da sind und ich für sie. Ich fühlte mich als Teil des Ganzen. Und dann kam die Coronavirus-Krise. Kein Fußball in nächster Zeit – das bedeutet für mich: Meine Fanclub-Kollegen:innen werde ich ebenso wenig zu Gesicht bekommen wie viele andere Menschen, die ich rund um den 1. FC Köln gerne getroffen habe. Aus heiterem Himmel ist mein lieb gewonnenes Umfeld verschwunden. Ich vermisse Fußball unendlich, ich vermisse meine Freunde unendlich.
Die Coronavirus-Krise: Eine gefährliche Situation für den Fußball
Dieses Gefühl ist es aber auch, das die aktuelle Situation so gefährlich macht. Trotz der Coronavirus-Krise ist das Geschehen im Fußball nicht vollständig zum Erliegen gekommen. Es wird berichtet, dass die DFL ab Mai die Fortsetzung der Bundesliga mit Geisterspielen plant. Um mit den finanziellen Folgen der Unterbrechung zurecht zu kommen, bringen einige Beteiligten bereits die Aufweichung oder Abschaffung der 50+1-Regelung ins Spiel. Und während alle Gedankenspiele um die Rettung dieses Businesses auf den Tisch gebracht werden, bestraft die UEFA Bayern München und Eintracht Frankfurt aufgrund Protestbanner, die den europäischen Fußballverband in Verruf gebracht haben sollen.
Während wir also alle zuhause sitzen, auf der verzweifelten Suche nach einem Fünkchen Normalität, wird von denselben Gestalten, die das bereits vor der Krise getan haben, im Hintergrund hart daran gearbeitet, unser geliebtes Spiel weiter zu verändern. Die Opposition gegen all diese Pläne, die in “normalen” Zeiten Kritik daran äußern würde, ist ihrer größten Bühne beraubt: Dem Stadion. Proteste und Widerspruch erreichen natürlich weniger Menschen, wenn sie nicht im Rahmen eines Fußballspiels, einer Veranstaltung von hohem nationalen und manchmal auch internationalen Interesse, geäußert werden.
“Sachen anstoßen, kritisch bleiben und Gutes tun”
Wie es im Brings-Song so schön heißt: “Loss dir nix jefalle, do weiß, woher do küss” – wenn wir nicht wollen, dass sich der Fußball vor unseren Augen zum Schlechteren verändert, muss sich jeder von uns darüber im Klaren sein: Das Spiel und seinen Verein zu vermissen ist nicht schlimm, doch wir sollten uns die Gründe für dieses Gefühl vor Augen führen. Die enge Verbindung zwischen Club und Stadt, die noch engere Verbindung von Fans und Verein, die Möglichkeit der Teilhabe und Einflussnahme durch die Mitglieder. Und die Tatsache, dass der Fußball auch ein Raum ist, wo Proteste und kritisches Hinterfrage ein Zuhause haben, wo soziale und politische Interaktion und Aktivitäten entstehen.
Die WildeHorde96 hat die Sonderausgabe SCHWAADLAPPE – "virus peculiari" herausgebracht. Dort findet ihr neben ein paar Worten zur Lage im Kölner Ultrakosmos auch die Aufforderung, in den aktuellen Wochen solidarisch aktiv zu sein. "Sag ja zum Leben!"https://t.co/llkXoo0N4Q pic.twitter.com/wZ2vDaq6a2
— Kölner Fanprojekt (@KoelnerFP) March 31, 2020
In meinen Augen hat diese Herangehensweise in der aktuellen Situation die Wilde Horde in ihrer Corona-Version des Schwaadlappens auf den Punkt gebracht: “Sachen anstoßen, kritisch bleiben und Gutes tun”, heißt es in dem langen Schreiben, das auf der Homepage der Ultragruppierung zu finden ist. Gutes tun, für andere da sein, Solidarität zeigen, aber niemals die Klappe halten, wenn einem etwas sauer aufstößt. Niemals vergessen, dass die derzeitige Situation Möglichkeiten hervorbringt, aber ebenso Risiken birgt. Kritisch bleiben ist notwendig – vielleicht mehr als jemals zuvor. Damit klar ist, dass das Gefühl der Sehnsucht nach Normalität keinen Blankoscheck darstellt für all die Verantwortlichen, die in unserem schmerzlich vermissten Fußball derzeit präsent sind.
Die Gründe, Fußball zu vermissen, gilt es zu verteidigen!
Ja, ich vermisse Fußball. Aber den Fußball, den ich vermisse, das ist der Fußball der Fans, der Fanorganisationen, der Ultragruppierungen und all den positiven Kräften, die kritisch ihre Stimme erheben. Die laut sind, wenn sich das Spiel, das wir alle lieben, immer weiter von seinen Wurzeln entfernt. Von all den Gründen, warum Menschen dieses Spiel so schrecklich vermissen. Warum ich dieses Spiel so schrecklich vermisse. Wir wissen, welcher Fußball uns fehlt.
Fußball ist eine Brutstätte für demokratische Ideen und sozialem Engagement. Fußball ist die schönste menschliche Ausdrucksform, die es heutzutage gibt – auf dem Rasen, aber vor allem daneben. Wir sollten daher alle auf der Hut sein, dass es der Sport bleibt, den es lohnt, derart zu vermissen, dass es körperlich schmerzt. “…wenn sie froge, sag us Kölle, und halt NIEMOLS ding Schnüss!”
In Israel geboren, in Köln zuhause: Felix Tamsut ist Sportjournalist und berichtet unter anderem für die Deutsche Welle über Fankultur in Deutschland sowie die sozialen und politischen Aspekte des deutschen Fußballs. Er ist Mitglied beim 1. FC Köln und fährt zu Heim- wie Auswärtsspielen der “Geißböcke”.