Ziemlich umfangreich, so scherzte Werner Wolf noch Anfang September auf der Mitgliederversammlung des 1. FC Köln in bekannt jovialem Ton, sei das Pflichtenheft, das Jürgen Sieger im Vorfeld der Veranstaltung für den Fall der Wahl zum Vorstand ausgearbeitet hatte. Über 20 Seiten soll es betragen haben: Themen, die das Präsidium in den ersten Tagen ihrer Amtszeit angehen muss. Ideen für die dringend notwendige innere Erneuerung des Vereins, der nach vielen Grabenkämpfen um die Macht in den vergangenen Jahren in alte Gewohnheiten zurückgefallen war. Strategien für die anstehenden Aufgaben, die in näherer Zukunft vor den „Geißböcken“ liegen werden.
Nach nicht einmal 100 Tagen sind diese Pläne wohl oder übel Geschichte – Jürgen Sieger ist von seinem Amt als Vizepräsident zurückgetreten. Aus privaten Gründen, wie der 1. FC Köln am Sonntag vermeldete. Dass es allerdings im Vorstand in der kurzen Zeit, die das Trio an der Spitze des dreifachen Deutschen Fußballmeisters stand, bereits zu erheblichen Verwerfungen gekommen war, ist rund um das Geißbockheim ein offenes Geheimnis. Sieger galt schon bei Bekanntwerden der Nominierung durch den Mitgliederrat als das „Hirn“ des geplanten Führungsteams, der renommierte Firmenanwalt war zu Beginn der Spinner-Ära in Zusammenarbeit mit engagierten Mitgliedern eine treibende Kraft der überfälligen Satzungsreform und hatte bei der wirtschaftlichen Sanierung des Clubs nach dem Abstieg 2012 im Hintergrund die Fäden gezogen.
Ende mit Schrecken dem Schrecken ohne Ende vorgezogen?
Strukturiert, an der Sache orientiert, hart in der Umsetzung: Qualitäten, die ihn zunächst zum Aufsichtsratschef bei der vereinseigenen KGaA und später zum Teil des Vorstands machten, der von den Mitgliedern mit deutlichem Votum und dem Wunsch nach Erneuerung ins Amt geschickt wurde. Die 100-Tage-Bilanz, die sich das Trio ohne äußeren Druck selbst auf die Fahne geschrieben hatte, fällt ernüchternd aus. Frischer Wind ist am Geißbockheim nicht zu spüren, bei den Personalentscheidungen hinterließ der Vorstand öffentlich wie intern keinen guten Eindruck, wichtige Unterstützer fühlen sich von der neuen Führungscrew getäuscht oder rücken bereits enttäuscht vom „Wolf-Rudel“ ab. Die Untätigkeit, die Uneinigkeit, der Unwillen zur Veränderung: All das hat Jürgen Sieger bereits nach wenigen Monaten im Amt derart frustriert, dass er wohl ein Ende mit Schrecken dem Schrecken ohne Ende vorgezogen hat.
Dennoch gibt es bei dieser Entwicklung nahezu ausschließlich Verlierer: Der Vorstand ist nach lediglich drei Monaten bereits beschädigt. Als Team waren Werner Wolf, Eckhard Sauren und Jürgen Sieger angetreten und hatten im Wahlkampf diesen Schulterschluss nach den frischen Eindrücken der gerade unrühmlich geendeten Spinner-Ära auch immer wieder unterstrichen. Dass dieser Schein der inneren Einheit trügerisch war, hat bereits die erste handfeste Krise des Vereins offen gelegt. Dass daraus der Rücktritt desjenigen resultiert, der die Abläufe im Club professionalisieren und berechenbarer machen wollte, der intern als äußerst kritischer Geist galt, der seinen Auftrag, der Geschäftsführung genau auf die Finger zu schauen, enorm ernst nahm, ist ein herber Schlag für alle, die auf einen modern geführten FC, der das Image des Karnevalsvereins abzulegen gedenkt, gehofft hatten.
Siegers Abschied ist aber auch ein herber Schlag für den Mitgliederrat, der sich trotz gewaltigem Druck von außen gegen den amtierenden Rest-Vorstand mit den trotz der Eskapaden in der jüngsten Vergangenheit bei vielen FC-Fans immer noch beliebten Markus Ritterbach und Toni Schumacher entschieden hatte. Stattdessen setzte die Findungskommission auf neue Gesichter, die sich zwar dank Mitarbeit in den Gremien innerhalb des Vereins auskennen, aber eben frischen Wind verkörpern sollten. Werner Wolf, Eckhard Sauren, Jürgen Sieger: Sie sollten für ein anderes Miteinander beim 1. FC Köln stehen. Die Gremien in die Entscheidungen einbinden anstatt sie im besten Fall zu ignorieren. „Gemeinsam gewinnen alle“ – so lautete das hochtrabende Motto, mit dem Werner Wolf und Co. angetreten waren.
Kein Coup des Mitgliederrats – kein Coup der Ultras
Dass diese Gemeinsamkeit nicht einmal für das Vorstandstrio in dessen 100-tägiger Auftaktphase galt, ist ein Problem für den vermeintlich mächtigen Mitgliederrat, dessen Gegner durch die Sieger’sche Demission wieder Aufwind bekommen dürften. Von der ersehnten Ruhe, die durch die Wahl des neuen Vorstands einkehren sollte, ist der 1. FC Köln jedenfalls wieder einmal weit entfernt. Aber auch aus einem anderen Grund dürfte der Rücktritt des Vizepräsidenten dem Mitgliederrat Sorgen bereiten: Sieger galt im Vorstandstrio als derjenige, der als Verfechter der Kontrollrechte der Gremien dem Präsidium gegenüber eintrat. Als derjenige, der für eine enge Verzahnung innerhalb des Clubs plädierte und diese auch lebte. Das durchaus bereits getrübte Verhältnis zwischen Vorstand und Mitgliederrat galt nicht für Jürgen Sieger.
Auch deshalb ist es verwegen, dessen Rücktritt und die Entsendung von Carsten Wettich in den Vorstand bis zur Mitgliederversammlug 2020 als eine endgültige Machtübernahme des Mitgliederrats oder gar Stefan Müller-Römers zu interpretieren. Im Gegenteil: Durch Siegers Abschied verliert das Gremium im Präsidium einen wortgewaltigen Fürsprecher seiner Anliegen. Die diversen Konfliktlinien im Club, sie verliefen definitiv nicht zwischen dem renommierten Firmenanwalt und den von den Mitgliedern gewählten Kontrolleuren des Vorstands. Ob die Versprechen der Führungscrew, die vor der Wahl noch hoch und heilig abgegeben wurden, nun auch weiterhin gelebt werden, bezweifeln viele Beobachter angesichts so mancher Spitzfindigkeit des Präsidiums bei der Suche nach einem neuen Sportchef für den 1. FC Köln.
Und wer glaubt, nun sei es endgültig um die „Geißböcke“ geschehen, da die Ultras den Club jetzt in ihrer Gewalt hätten, irrt sich wieder einmal gewaltig. Kein Verkauf von Vereinsanteilen, kein Stadionneubau auf der grünen Wiese, Wiederbelebung des Dialogs zwischen Ultras und Verein, Kritik an der Kommerzialisierung im Fußball: Jürgen Sieger wirkte vom Auftreten her wahrlich nicht wie ein Mann des Volkes, doch war er mit seinen Ansichten näher an der aktiven Fanszene als jeder der bisherigen Kandidaten für ein hohes Amt beim 1. FC Köln. Seine grundsätzliche Einstellungen zu vielen Themen kamen an in der Südkurve – weil sie ehrlich wirkten und es auch waren.
Ein hartnäckiger Kontrolleur geht von Bord
Es verwundert daher kaum, dass es schon weit vor Siegers Entschluss, Vizepräsident werden zu wollen, wohlwollende Kontakte zwischen ihm und den Ultras gab. Sorgen, dass nach seinem Rücktritt die umstrittenen Themen wie Investoren und Stadionneubau wieder auf den Tisch kommen, sind in der aktiven Fanszene durchaus präsent – denn für sie war es vor allem Siegers Verdienst, dass das neue Triumvirat an der Spitze des 1. FC Köln mit diesen Ansichten in den Wahlkampf zog. Dass dieser Ansprechpartner, der als „ehrlicher Makler“ galt und zwischen den immer noch zerstrittenen Konfliktbeteiligten hätte vermitteln können, ab sofort fehlen wird, trifft den Kern der FC-Fanszene hart.
Den Verein trifft derweil der Abschied des Vizepräsidenten ebenso hart, denn er kommt einerseits zu einem äußerst ungünstigen Zeitpunkt und andererseits erschwert Siegers Rücktritt den dringend notwendigen Erneuerungsprozess am Geißbockheim, den sich viele Wähler*innen gewünscht hatten. Es schwächt vor allem aber inhaltlich wie personell das Präsidium als Kontrollorgan der Geschäftsführung gegenüber – eine Aufgabe, der in den vergangenen drei Jahren nur ungenügend nachgekommen wurde, wie auch das scheidende Vorstandsmitglied öfters feststellen musste.
Auch die Art des Abgangs kann nicht nach dem Geschmack des eher stillen Juristen sein: Bereits Samstag während des Überraschungssieges gegen Leverkusen sickerte die Nachricht, deren Veröffentlichung für Sonntag geplant war, durch. So stand Sieger mehr im Mittelpunkt, als ihm lieb gewesen sein dürfte. Schon bei seiner Abberufung aus dem Aufsichtsrat wählte er trotz berechtigtem Frust den Abschied durch die Hintertür. Ohne der Vereinsführung Dreck hinterher zu werfen – das dürfte auch diesmal der Fall sein. Für Jürgen Sieger, der mit großem FC-Herz und großem Elan angetreten war, ist es schade, dass er seine Pläne als Vizepräsident nicht umsetzen konnte. Für den Verein ist es schade, dass er mit dem Rücktritt von Jürgen Sieger einen äußerst fähigen und loyalen Reformer verliert, den er so dringend nötig hätte.