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Bio-Banding als innovativer Trainingsansatz im NLZ des 1. FC Köln: Äpfel mit Äpfeln vergleichen

Im selben Jahrgang, doch unterschiedlich groß - ein Fall für den Einsatz von Bio-Banding? (Foto: Allsport UK/ALLSPORT/Getty Images)

Schon seit Jahren werden auch auf dem Hintergrund steigender Transfersummen Konzepte erörtert, wie die Talentförderung im Nachwuchsfußball optimiert werden kann. Einen dieser innovativen Ansätze, das Bio-Banding, setzt das Nachwuchsleistungszentrum (NLZ) des 1. FC Köln seit Beginn dieser Saison einmal pro Woche im Training der Jahrgänge der U13 bis U15 um.

Wir trafen Marc Dommer, den sportlichen Leiter des Bereichs von U8 bis U14 im NLZ des 1. FC Köln, um mehr über diesen Trainingsansatz zu erfahren, über seine gegenwärtige Umsetzung, über erste Eindrücke, die die Verantwortlichen sammeln konnten, und über Zukunftsperspektiven, die dieser Ansatz eröffnen kann. Marc Dommer arbeitete von 1997 bis 2006 in der Nachwuchsabteilung von Schalke 04, kam dann zum 1. FC Köln, wo er unter anderem Leiter des Nachwuchs-Scouting war, bevor er von 2016 bis 2019 als Stützpunktkoordinator für den DFB tätig war. Seit 2019 verantwortet er den Grund- und Aufbaubereich im NLZ der Geißböcke.

effzeh.com: Seit Beginn dieser Saison gibt es eine Neuerung im NLZ des 1. FC Köln – das Bio-Banding. Können Sie die Grundidee dieses Trainingsansatzes kurz skizzieren und erläutern, wie es zu dessen Einbindung in die Trainingsarbeit der Teams von der U13 bis zur U15 kam?

Marc Dommer: Zunächst einmal glaube ich, dass man ein Grundproblem skizzieren muss. Wie der gesamte Nachwuchsleistungssport haben auch wir seit Jahren mit dem Relative Age Effect zu kämpfen. Das heißt: Wir haben deutlich überproportional viele frühgeborene Aktive in unserer Förderung, deren Geburtsdatum in der ersten Jahreshälfte liegt und die häufig frühentwickelt sind. Das hat damit zu tun, dass diese Spieler natürlich eher auffallen, weil sie aktuell leistungsstärker sind und sich vielleicht schon mehr durchsetzen können als Spätentwickler des gleichen Jahrganges, deren Geburtsdatum häufig zwischen Juli und Dezember liegt. In den Nachwuchsleistungszentren liegt der Anteil der frühgeborenen Spieler bei über 70 Prozent, das kann kein Zufall sein. Wenn man sich die Gesamtpopulation in Deutschland anschaut, dann findet man annähernd gleichviele früh, mitten und spät im Jahr geborene Menschen, das heißt: Bei der bisherigen Konzentration auf frühentwickelte Spieler geht uns wahrscheinlich ein großer Teil an Talentpotenzial durch die Lappen.

Marc Dommer, sportlicher Leiter U8 – U14 im NLZ des 1. FC Köln (Foto: Thomas Fähnrich/1. FC Köln)

Der andere Aspekt ist, dass man sich überlegen muss, ob die Spätentwickler, aber auch die Frühentwickler, die wir im System haben, wirklich optimal gefördert werden können, wenn wir sie immer miteinander spielen lassen. Weil ein Spätentwickler, der sich noch nicht so durchsetzen kann, möglicherweise weniger Selbstbewusstsein entwickelt, seltener in 1-gegen-1-Situationen geht, seltener überhaupt Ballaktionen und vor allem auch gegnerüberwindende Schlüsselaktionen hat. Aber auch der Frühentwickler, der körperlich stets überlegen ist und der sich auf diese Überlegenheit verlassen kann, erfährt möglicherweise keine optimale Förderung, weil er nicht gezwungen sein wird, technisch besonders sauber zu agieren oder taktisch gute Lösungen zu finden. Das war das Ausgangsproblem, das wir durch diesen Ansatz zu lösen versuchen.

Inwieweit kann Bio-Banding hier den Relative Age Effect zähmen?

Das Bio-Banding ist in den letzten Jahren in der Sportwissenschaft immer mehr zum Thema geworden, etwa in England, wo es schon eine ganze Reihe an Pilotprojekten gibt, in Belgien und auch die Schweizer sind in diesem Bereich schon sehr weit. Der Ansatz beruht darauf, dass es mit relativ einfachen Mitteln möglich ist, das biologische Alter eines Jugendlichen zu bestimmen und dies seinem kalendarischen Alter gegenüberzustellen. Um die Tragweite dieses Problems zu verdeutlichen: In der Pubertät, dem Entwicklungsbereich, über den wir hier sprechen, kann es einen Unterschied von bis zu fünf Jahren geben zwischen dem biologischen und dem kalendarischen Alter.

Bei der Bestimmung des biologischen Alters verlassen wir uns jedoch nicht nur auf die Messdaten. Die Einschätzung von erfahrenen Trainern, die alleine schon durch den Augenschein erste Erkenntnisse über die biologische Reife eines Spielers gewinnen können, sind hier ebenfalls hilfreich. Kombiniert man dann Messdaten und Trainereinschätzungen, ergibt das eine hohe Aussagekraft hinsichtlich der Frage, wann bei einem Jugendlichen der Entwicklungsspurt einsetzt in Bezug auf die biologische Reife. Und die Konsequenz daraus, und das ist das Entscheidende, ist dann die, dass man Spieler ähnlicher biologischer Reife zusammenbringt, die kalendarisch nicht selten unterschiedlichen Jahrgängen angehören.

“Die Grundidee dieses Ansatzes ist, Talenteinschätzung weiter zu präzisieren, aber auch Talentförderung zu verbessern.”

Und da greift die Grundidee dieses Ansatzes, die darauf abzielt, Talenteinschätzung weiter zu präzisieren, aber auch Talentförderung zu verbessern. Und weil die unterschiedlichen Wachstumszustände in den Pubertätsaltersstufen ein besonders großes Thema sind, haben wir die Teams der U13 bis U15 in Betracht gezogen. Im Athletiktraining dieser Teams nutzen wir das Bio-Banding schon seit einigen Jahren, weil man gerade im körperlichen Bereich besonders darauf achten muss, dass man Spieler nicht überlastet. Mit Beginn der aktuellen Saison haben wir das ausgeweitet auf das spielorientierte Fußballtraining. Und dort sammeln wir momentan Eindrücke und Erfahrungen, um abschätzen zu können, inwieweit wir den genannten Problemen mit diesem Ansatz begegnen können.

Der Relative Age Effect – Quotenregelung und Schattenkader als bisherige Lösungsversuche

Sie haben den Relative Age Effect schon angesprochen. Um dem zu begegnen, haben sie in Ihrer Eigenschaft als DFB-Stützpunktkoordinator eine Quotenregelung eingeführt. Wie sah die genau aus?

In den Nachwuchsleistungszentren sieht man eine sehr auffällige Altersverteilung von Spielern, so waren zum damaligen Zeitpunkt  deutlich über 70 Prozent der Spieler in der ersten Jahreshälfte geboren, die am Mittelrhein in den NLZ-Teams der U12 bis U15 spielten. Das sind natürlich talentierte Jungs, einige zweifellos hochtalentiert, die in ihrer körperlichen Entwicklung halt häufig schon weiter sind als andere Spieler ihres Jahrgangs. Der Schluss, den wir daraus gezogen haben, war der, dass wir gesagt haben, anstatt die zweite oder dritte Reihe der Frühentwickler zu fördern, hat es mehr Sinn, diejenigen Talente aufzufangen, die noch nicht in das Fördersystem der Nachwuchsleistungszentren gelangt sind, und ihnen im Stützpunkt die Möglichkeit zu geben, eine Förderung zu erfahren, die für ihren weiteren fußballerischen Entwicklungsweg hilfreich sein kann.

Romelu Lukaku im Einsatz für Belgien – er war ein typischer Frühentwickler (Foto: ANDREAS GEBERT/POOL/AFP via Getty Images)

Mit anderen Worten: Da die frühgeborenen Frühentwickler vorrangig in den Nachwuchsleistungszentren zu finden sind, muss auf der Seite der spätgeborenen Spätentwickler noch einiges an Potenzial vorhanden sein. Deshalb die Quote, wohlwissend, dass Quotenregelungen immer nur Behelfslösungen sind, denn am Ende darf nicht die Quote entscheiden, sondern die individuelle Einschätzung eines Talents. Aber auch in den Stützpunkten haben wir gesehen, dass wir bei den dortigen Auswahlspielern einen extremen Relative Age Effect hatten. Daher haben wir den Lösungsansatz gewählt, dass ein Drittel der Spieler aus dem vierten Quartal eines Jahrgangs rekrutiert werden sollte und mindestens ein Fünftel aus dem dritten Quartal. Und da bleibt immer noch viel Platz für Frühgeborene und Frühentwickelte. Das war der Ansatz, und wenn ich das richtig überblicke, führt mein Nachfolger beim DFB, Mirko Schweikhard, den auch weiter fort.

Ist diese Idee der Quotenregelung vergleichbar mit den Schattenkadern, die es bei den Juniorennationalteams in Belgien gibt?

Die Dinge, die die Belgier schon vor vielen Jahren im Nachwuchsbereich eingeführt haben, haben für mich schon immer eine Vorbildfunktion. Ich weiß gar nicht, ob die Belgier das Schattenkader genannt haben, aber sie haben tatsächlich ab der U15 mehrere Ausbildungsgruppen für jeden Jahrgang ihrer U-Nationalteams gebildet, wo sie nach Früh-, Normal- und Spätentwicklern differenziert haben. Ich denke da zum Beispiel an Kevin de Bruyne, der meines Wissens in Perspektivkadern für Spätentwickler gefördert wurde, ehe er mit Einsetzen der körperlichen Reife einen gewaltigen und nachhaltigen Leistungssprung gemacht hat. Auf der anderen Seite erinnere mich an Spiele mit der Schalker Jugend gegen Lierse, deren Mittelstürmer der körperlich ungemein weitentwickelte und hochtalentierte Romelu Lukako war, der in diesem Team deutlich unterfordert schien, später in den belgischen U-Nationalteams jedoch auf ähnlich robuste Spieler traf.

“Die Belgier haben ab der U15 mehrere Ausbildungsgruppen für jeden Jahrgang gebildet, wo sie nach Früh-, Normal- und Spätentwicklern differenziert haben. Ich denke da zum Beispiel an Kevin de Bruyne, der meines Wissens in Perspektivkadern für Spätentwickler gefördert wurde, ehe er  einen gewaltigen Leistungssprung gemacht hat.”

Sind die beiden genannten Spieler nicht auf unterschiedliche Weise Beispiele für die Sinnhaftigkeit eines auf biologische Reife ausgerichteten Förderkonzepts wie das des Bio-Bandings?

Das lässt sich gewiss nicht von der Hand weisen. Man kennt ja auch selber Spieler, auf die dies zutrifft. Ich habe immer Kerem Demirbay vor Augen, der jetzt in Leverkusen spielt. Den habe ich ein paar Jahre lang in der Schalker Jugend begleitet, wo er dann nach meinem Wechsel zum FC irgendwann mal abgegeben worden ist und über die Jugend des BVB, Wattenscheid und Dortmund II ganz viele Umwege gemacht hat, bevor er in der Bundesliga gelandet ist. Demirbay ist sicherlich ein Beispiel von vielen, wo es trotzdem schlussendlich gutgegangen ist. Ich glaube aber, dass es eine Dunkelziffer von vielen, vielen Talenten gibt, die aus dem System rausgefallen sind und dann nicht mehr den Weg zurückgefunden haben. Und das ist einfach schade, denn da geht uns viel an Talentpotenzial verloren.

Wenn man das einmal im großen Kontext sieht, dann glaube ich, dass wir mehr und mehr ein Problem damit bekommen, dass der Fußball im Freizeitverhalten vieler Kinder nicht mehr an erster, zweiter oder dritter Stelle steht. Bei einem 80-Millionen-Land wie dem unsrigen ist der Talentpool immer noch sehr groß, andererseits sind aber auch aufgrund der Unmenge an Freizeitalternativen so viele fußballspielende Kinder bei uns nicht mehr unterwegs. Deshalb sollten wir den Pool ordentlich nutzen und denjenigen, die den Weg in die Nachwuchsleistungszentren gefunden haben, Fördermaßnahmen zuteilwerden lassen, die ihrer Entwicklung entsprechen.

Das ist sicherlich auch der Grund, warum das Bio-Banding Einzug in das Nachwuchstraining beim 1. FC Köln gehalten hat. Organisatorisch haben Sie das so geregelt, dass aus den Teams der U13, 14 und 15 drei Gruppen gebildet wurden. Nach welchen Kriterien haben Sie diese Einteilung vorgenommen?

Nach biologischer Reife. Wir haben dazu die Mirwald-Formel mit der sogenannten PHV-Messung (PHV: Peak Height Velocity) benutzt, um zu ermitteln, welche Spieler sich vor dem Wachstumsspurt befinden, wer genau darin anzusiedeln ist und wer schon dahinter. Dazu haben wir die Spieler gewogen, gemessen und die Sitzhöhe sowie Beinlänge ermittelt. Auf der Grundlage der Messungen haben wir dann drei ungefähr homogene Gruppen gebildet in Bezug auf die biologische Reife der Spieler: die Gruppe P1 mit den Normalentwicklern aus der U13 und den Spätentwicklern aus der U14, die P2 mit Spielern aus allen drei Teams, Frühentwickler aus der U13, Normalentwickler der U14 sowie die Spätentwickler der U15 und schließlich die P3 mit den Frühentwicklern aus der U14 und den Normalentwicklern der U15.

Die U14 des 1. FC Köln in der Saison 2021/22 (Foto: Thomas Fähnrich/1. FC Köln)

Das hört sich jetzt alles so super an, bei der Evaluation ist aber für uns herausgekommen, dass nicht alles Gold ist, was glänzt. Eine Schwierigkeit ist zum Beispiel, dass es ein Motivationsproblem für die Spieler gibt, die in der U15 spielen, körperlich spät dran sind und dann in P2 eingestuft wurden und dort hauptsächlich mit U14, aber auch teilweise mit U13 Spielern trainieren. Diese Jungs fühlen sich herabgestuft. Natürlich haben wir den Spielern und auch ihren Eltern erklärt, was dahintersteckt, dass es um biologische Reife geht, und nicht etwa um eine Abwertung ihres fußballerischen Talents. Auch haben wir darauf hingewiesen, dass es eigentlich darum geht, ihnen noch einmal einen neuen Förderreiz zu vermitteln. Aber im Kopf des 15-Jährigen und vor allen Dingen in der Gruppe der 15-Jährigen kommt diese Zuordnung anders an, weil die Wahrnehmung die ist, dass da jemand mit den „Kleinen“ trainieren muss. Gerade bei dieser Problematik wäre es für mich interessant zu erfahren, wie Kevin de Bruyne das damals aufgenommen hat, als er als Spätberufener die diesbezügliche Förderung durchlaufen hat.

Bei denen, die hochgestuft werden, ist alles super, denn die dürfen ja mit den Älteren spielen, die haben eine ganz hohe Motivation. Das funktioniert manchmal aber auch umgekehrt. Wir haben zum Beispiel einen U14-Jungen, der trainiert mit vielen U13-Jungs in der P1 und der macht das überragend. Und da sehen wir auch, dass er nochmal ganz andere Aktionen hat, viel mehr Dribblings, viel mehr 1-gegen-1 Situationen. Das sind natürlich Entwicklungen, bei denen einem Trainer das Herz aufgeht.

Können Sie sagen, wie hoch die Anteile der Spieler in den jeweiligen Teams waren, die einer höheren oder niedrigeren Stufe zugeordnet worden sind?

Marc Dommer: Den größten Anteil machten die Normalentwickler aus. Danach kamen die Spätentwickler und schließlich die Frühentwickler, die den zahlenmäßig kleinsten Anteil einnahmen. Von den drei Gruppen war P2 die größte, weil hier die Normalentwickler aus der U14 auf die Spätentwickler aus der U15 und die Frühentwickler aus der U13 treffen.

Bio-Banding in den U13- bis U15-Teams des 1. FC Köln: Organisation und Trainingsinhalte

Die Bio-Banding-Einheiten bestehen aus einem athletischen und einem fußballspezifischen Teil. Im Athletikteil geht es neben dem Kraftaufbau und der Schulung der Koordination ganz gezielt um die Prävention von Verletzungen. Warum ist das gerade in diesem Nachwuchsbereich so wichtig?

Verletzungen vorzubeugen ist grundsätzlich ein wichtiges Thema. Aber gerade im Nachwuchsbereich ist dies von Bedeutung, denn Verletzungen verhindern immer Lernzeit. Wir haben natürlich auch eine Verantwortung für die Jungs, die da viermal oder fünfmal pro Woche Leistungssport betreiben. In diesem Teil des Trainings geht es um Rumpfstabilisierung, um Bewegungskoordination und Körperbeherrschung, um Reaktionsfähigkeit, um Gleichgewichtsgefühl, und eben auch um die Fähigkeit, Kontaktverletzungen frühzeitig ausweichen zu können, weil man eine geschulte Wahrnehmung, eine gute Orientierungsfähigkeit hat und weil man seinen Körper gut beherrschen lernt und dadurch viel verhindern kann. Rumpfstabilität ist hierbei ein wichtiges Thema und ist in diesen Altersstufen auch gut trainierbar. Der koordinative Aspekt des Ansteuerns von Muskulatur muss in diesen Altersstufen besonders trainiert werden und dient unter anderem auch der Vorbeugung von Verletzungen. Durch ein entsprechend ausgerichtetes Athletiktraining die Spieler vor Blessuren zu schützen, ist eine wichtige Aufgabe dieses Teils des Bio-Banding-Ansatzes.

Auf den Athletikteil folgt ein fußballspezifischer Teil. Inwieweit unterscheiden sich die diesbezüglichen Inhalte in den drei Gruppen?

Überhaupt nicht. Wir lassen alle drei Gruppen tatsächlich frei spielen. Am Anfang wird noch eine kurze Ballaktivierung gemacht, teilweise auch Rondos und Wahrnehmungsübungen. Danach geht es direkt in die Spielformen. Je nach Gruppengröße wird dann die Gruppe noch einmal unterteilt etwa in zwei Mannschaften, die zum Beispiel darum spielen, welches Team am Ende die Tore wegtragen muss, oder in vier Mannschaften, die zum Beispiel ein Turnier ausspielen. Am Ende geht es aber darum, die Jungs frei spielen zu lassen. Das ist etwas, was vielen Trainern oder Ausbildern im Nachwuchsbereich manchmal schwerfällt, weil man irgendwie immer alles vorgeben und kontrollieren will.

Wir unterschätzen gelegentlich die Wirkung des freien Spiels und überschätzen dabei auch unsere Wirkung. Der Straßenfußball früher hatte vielleicht auch deswegen einen so großen Wert, weil man da einfach Dinge ausprobieren konnte, ohne dass jemand am Rand stand und einem Spieler bedeutete, er solle dies und das doch anders machen. Und was wir erreichen wollen im Nachwuchsbereich ist ja, dass wir Spieler dazu entwickeln, auf dem Platz Entscheidungen treffen und in Form fußballerischer Lösungen umsetzen zu können. Dabei sammeln sie Erfahrungen, die wir mit ihnen nachher gemeinsam reflektieren.

“Wir unterschätzen gelegentlich die Wirkung des freien Spiels und überschätzen dabei auch unsere Wirkung. Der Straßenfußball früher hatte vielleicht auch deswegen einen so großen Wert, weil man da einfach Dinge ausprobieren konnte.”

Wir möchten mit dem freien Spiel ein Setting schaffen, in dem Spieler selber agieren können. Wir sind keine Play-Station-Trainer, die die Spieler steuern, sondern es sind vielmehr die Spieler, die agieren sollen. Wir geben ihnen keine Muster vor, sondern vermitteln ihnen lediglich, dass es unser Prinzip ist, den Gegner zu überwinden, um in die torgefährliche Zone zu gelangen und dort zum Abschluss zu kommen. Wir wollen gerade nicht diese dressierten Jungs, die nur noch nach Mustern spielen, sondern eigenständige, kreative Spieler, die selbst entscheiden und spielerische Lösungen finden. Und deshalb ist dieser Bereich des freien Spielens für uns von großer Relevanz. Unsere Überzeugung ist, dass dies der Weg ist, wie Lernen nachhaltiger funktioniert. Dabei lernen die Spieler auch durch Fehler, denn die haben eine emotionale Relevanz für die Spieler, die sich dann Gedanken darüber machen.

Vor einigen Wochen haben Sie nun die ersten Erfahrungen mit dem Bio-Banding-Training ausgewertet. Wie sind sie dabei vorgegangen und welche Ergebnisse zeigten sich dabei?   

Wir wollten diese erste Evaluation eigentlich schon früher machen, haben es dann aber noch etwas länger laufen lassen, um noch mehr Eindrücke zu sammeln. Das hatte auch damit zu tun, dass der Bereich der spielbezogenen Datenanalyse wegen der beengten Bedingungen am Geißbockheim nur punktuell möglich war. So waren wir bei der Erfassung von Schlüsselaktionen stärker auf subjektive Eindrücke angewiesen als auf objektive Daten unserer Videoaufzeichnungssysteme und das hat mehr Zeit in Anspruch genommen.

Zu den Ergebnissen: Es haben alle Trainer gesagt, dass sie die Methode gut fänden und dass sie das weiterführen möchten. Dabei wurde der Wunsch geäußert, den Athletikteil zugunsten einer Verlängerung des fußballspezifischen Teils zu verkürzen. Dem Trainingsteil des freien Spiels solle ein weiterer Teil vorgeschaltet werden, in dem die Gruppe noch mehr kleine Spiele bestreitet, dann aber mit Anleitungen, was verhaltens- und spieltaktische Aspekte betrifft.

Mehrwertpotenzial für Spieler und Trainer

Es wurden viele neuen Eindrücke genannt, die jeder Trainer über „seine“ Spieler gewinnen konnte. Ich erwähnte vorher schon das Beispiel eines kleinen Spielers aus der U14, der in die P1 eingestuft worden war und dort regelrecht aufblühte. Es gab aber auch Spieler, die mit Jüngeren trainiert haben und immer noch Probleme hatten, sich durchzusetzen. Dadurch ist aber auf der anderen Seite auch eine differenziertere Einschätzung von Spielern möglich. Das ist ein enormer Nutzen dieses Ansatzes. Er ermöglicht nicht nur einen ganz anderen Trainingsreiz, sondern gibt uns darüber hinaus noch die Möglichkeit, einen Spieler noch besser einschätzen zu können, weil wir ihn mit Spielern vergleichbarer biologischer Reife sehen.

Es kam auch noch einmal der Hinweis, dass wir nicht nur die biologische Reife als Einteilungskriterium ansetzen sollten. Es gibt eben auch Spieler, die körperlich ihrem kalendarischen Alter entsprechend entwickelt sind, die aber fußballerisch schon so weit sind und eine so hohe Spielkompetenz haben, dass es für sie wichtig ist, auch immer wieder mit körperlich stärkeren Jungs zusammenzuspielen und Lösungen zu finden. Florian Wirtz haben wir zum Beispiel damals, obwohl er körperlich noch nicht so weit war, ab der U13 bewusst in dem jeweils älteren Jahrgang spielen lassen. Er war in seiner Altersgruppe unterfordert und hat spielerisch immer schon so gute Lösungen gefunden, dass wir beschlossen haben, die Messlatte höher zu legen, damit er sich weiter strecken musste. In solchen Fällen muss man auch so flexibel sein, den Bio-Banding-Ansatz nicht auf „Teufel komm raus“ umsetzen zu wollen.

Der ehemalige Nachwuchsspieler des 1. FC Köln, Florian Wirtz, im Einsatz für die U17 des DFB (Foto: Filipe Farinha/Getty Images for DFB)

Grundsätzlich fiel das Feedback jedoch positiv aus, weil man interessante Spielaktionen von Spielern sehen konnte, die dies vorher nicht zeigen konnten. Das trifft übrigens auch auf die Frühentwickler zu. Ein U14-Spieler, der in seinem Jahrgang einfach so durchmarschiert ist, muss dann in der P3- Gruppe ganz anders dagegenhalten und andere Lösungen finden. Uns so mancher vermeintliche „Topspieler“ musste einsehen, dass er zwar immer noch ein sehr guter Spieler ist, aber noch einmal einen ganz neuen Entwicklungsschritt machen muss. Das ist ein Riesenmehrwert aus der Sicht unserer Trainer. Es wurde aber auch das schon erwähnte Problem von U15-Spielern benannt, die der P2 zugeordnet worden waren. An dieser Problematik müssen wir dranbleiben und Lösungswege finden. Das muss sich vielleicht auch noch herauswachsen, dass das normaler wird, an Trainingssequenzen teilzunehmen, in denen man nach biologischer Reife Gruppen zugeordnet wird. Entscheidend ist, dass die Spieler verstehen, dass dies nichts mit Auf- oder Abstieg zu tun hat.

Wir werden das Bio-Banding-Training weiterführen, wahrscheinlich aber zukünftig einige Anpassungen vornehmen. Ich persönlich könnte mir etwa vorstellen, dass man es auch irgendwann auf eine Altersstufe darüber, also auf die U16 ausweitet. Ich glaube auch, dass unser U16-Trainer und unsere sportliche Leitung dafür offen sind.

Bio-Banding im NLZ des 1. FC Köln: Zukunftsperspektiven und mögliche Auswirkungen auf Spielbetrieb und Scouting

Wenn man jetzt einmal den Blick über die Gegenwart hinaus lenkt, welche Zukunftsperspektiven könnte der Bio-Banding -Ansatz für das NLZ des 1. FC Köln eröffnen?

Für die Zukunft gibt es Pläne, gegen die Teams des Kölner Stützpunktes Bio-Banding-Spiele zu bestreiten. Wir haben auch Kontakt zur DFB-Akademie bzw. zu anderen Vereinen, die sich auch auf den Weg gemacht haben, einen solchen Ansatz umzusetzen, mit denen wir gemeinsam Bio-Banding-Turniere austragen könnten. Allerdings macht uns zur Zeit unsere Platzsituation einen Strich durch die Rechnung. Wir müssten dann auswärtig spielen, was logistisch schwierig ist, weil wir dann die Eltern, die zum Teil berufstätig sind, wieder als „Fahrdienst“ einspannen müssten. Anderseits gibt es die Corona-Situation und deswegen wollen wir nicht zu viel mischen. Wir würden mit gemischten Teams gegen andere gemischte Teams antreten, ganz abgesehen von der Problematik der Kabinensituation. Also Infrastruktur und Corona verhindern im Moment noch, dass wir da den nächsten Schritt in Richtung Spiele mit Bio-Banding-Teams gehen, aber die grundsätzliche Überzeugung ist da, dass dies ein guter Ansatz ist und der Wille, das auch weiterzuführen, ist vorhanden, und das werden wir auch machen.

Es gibt seitens des DFB im „Projekt Zukunft“ die Idee, dass man im Nachwuchsbereich weg von der Ergebnisorientierung des Wettbewerbs kommen möchte, von Meisterschaft und Abstieg, und deshalb sogar die Auflösung von Nachwuchsligen in Betracht zieht. Wenn man dies weiterdenkt, könnten dann diesbezügliche Überlegungen irgendwann sogar in Richtung eines Bio-Banding-Spielbetriebs gehen?

Ja, absolut. Nicht exakt in diese Richtung, aber prinzipiell schon, weil mit einer solchen Liga, aus der man nicht absteigen kann, das ganz große Thema ‘Ergebnisdruck’ relativiert wird. Und da könnte man vermuten, dass dann die Spielerauswahl der beteiligten Vereine sich weniger an dem körperlichen Entwicklungsstand orientiert, an den Spielern, mit denen man aktuell Spiele gewinnt, sondern vielmehr an der langfristigen Talentperspektive der Spieler. Das ist wohl der Hintergrund der Idee des DFB und das ist ein absolut sinnvoller Gedanke.

Ich habe allerdings Zweifel daran, dass das wirklich passiert. Wir haben zum Beispiel in der U14 im Westen eine solche Liga ohne Abstieg und sehen dort trotzdem den Relative Age Effect. Es gibt eben Vereine, die um jeden Preis Meister werden wollen und sich dann die körperlich überlegenen Spieler auswählen mit entsprechendem biologischen Alter. Von denen werden dann übrigens nicht wenige nach zwei, drei Jahren wieder aussortiert. Und trotz alledem: Die Grundidee, den Ergebnisdruck in diesen sensiblen Wachstumsphasen rauszuhalten, halte ich für richtig. Mehr auf die Entwicklung Wert zu legen als auf das Ergebnis in dem Moment, ist der Förderung von Talenten absolut zuträglich. Eines ist natürlich klar: Wenn wir über U17 und U19 reden, müssen die Ergebnisse dort selbstverständlich eine Rolle spielen. Die Jungs müssen dann vorbereitet werden auf den Wettkampf, der sie im Erwachsenenfußball erwartet. Aber ob man nun in der U15 unbedingt Meister werden muss? Ich kann Ihnen Spieler nennen, die Europameister, Weltmeister und Champions-League-Sieger waren, aber niemals U15-Meister.

Der 1. FC Köln hat wie einige andere Vereine auch begonnen, das Bio-Banding in die Trainingsarbeit des NLZ zu integrieren. Inwieweit fördert der DFB diesen Ansatz und hat er den Verein dabei unterstützt?

Was man sagen kann, ist, dass der DFB schon vor einiger Zeit begonnen hat, Perspektivlehrgänge in den U-Jahrgängen einzurichten. Das heißt: Man hat Spieler eingeladen, von denen man gesagt hat, in denen sehen wir Potenzial, sie sind aber körperlich aktuell noch nicht so weit, dass sie in einer U-Nationalmannschaft schon mitspielen können. Aus meiner Sicht war das ein Tropfen auf den heißen Stein, weil ich mir nicht sicher bin, ob vereinzelte Lehrgänge in der betreffenden Altersstufe so viel bringen. Zudem sucht man da aus einer Gruppe aus, die eh schon zum großen Teil aus Frühentwicklern besteht. Man sichtet bei Länderpokal-Turnieren, bei denen die Relative Age Quoten bei ungefähr 80 Prozent liegen.

Andererseits haben wir aber ganz viel Unterstützung erfahren durch die DFB-Akademie, wo mit Joe Sardo jemand arbeitet, der sich dieses Themas angenommen und uns jede Menge an vorbereitender Literatur zur Verfügung gestellt hat, zum Beispiel auch Studien aus England und anderen Ländern zu diesem Thema. Die Relevanz dieses Themas ist beim DFB absolut präsent. Und es ist auch sehr hilfreich, dort Ansprechpartner zu haben und nochmal einen Blick mehr über den Tellerrand zu bekommen.

Die U17 des 1. FC Köln in einem Testspiel gegen die U17 des BVB am 21.3.2021 (Foto: IMAGO/Herbert Bucco)

Wenn man einmal über die Trainingseffekte des Bio-Banding hinausgeht: Inwieweit können Erkenntnisse aus diesem Ansatz auch das Scouting und den Bereich des Probetrainings beeinflussen?

Aus meiner Sicht massiv. Ich glaube, dass man auch da den nächsten Entwicklungsschritt gehen muss, indem man das Screening von Spielern im Probetraining noch breiter aufstellt, und dazu muss aus meiner Sicht auch das biologische Alter dieser Spieler gehören. Das machen wir bereits punktuell, aber noch nicht in dem Umfang und der Nachhaltigkeit, mit der man das machen müsste. Natürlich ist es immer noch am absolut wichtigsten, dass man sich die Einschätzung von Scouts und Trainern ansieht, Expertenauge und langjährige Erfahrung sind durch nichts zu ersetzen. Ich glaube aber, dass der Screening-Prozess eines Probespielers noch differenzierter gestaltet werden kann.

“Wenn man Äpfel mit Äpfeln vergleichen will, dann muss man die auch zusammenpacken. Und manchmal vergleicht man halt Äpfel mit Birnen.”

So sollte meiner Meinung nach der Vergleich mit biologisch Gleichaltrigen hierzu herangezogen werden. Wenn man Äpfel mit Äpfeln vergleichen will, dann muss man die auch zusammenpacken. Und manchmal vergleicht man halt Äpfel mit Birnen. Das heißt jetzt nicht, dass unsere Trainer und Scouts das mit ihrer Expertise nicht schon ein Stückweit machen, keineswegs! Wir treffen stets die Einschätzung, wie biologisch reif ein Spieler ist oder wie seine Perspektive eingeschätzt wird. Aus meiner Sicht würde es jedoch zu einem Mehrwert führen, dies noch mehr auf eine Faktenebene zu bringen. Das Auge des Experten ist das wichtigste, aber warum nicht noch die Messung dazunehmen, um sich abzusichern, darum geht’s.

Eines muss uns aber immer bewusst bleiben: Bei aller Optimierung des Scoutings und Screenings von Talenten, bei aller zielgenauen, auf das biologische Alter abgestimmten Gestaltung von Trainingsprozessen werden wir nicht jeden Spieler zum Profi machen können. Es geht vielmehr darum, den jugendlichen Fußballer bestmöglich darin zu unterstützen, das Maximale aus seinen Möglichkeiten zu machen. Und auch das ist ein attraktives Ziel, das sich zu verfolgen lohnt. Nach den Eindrücken aus der ersten Phase des Bio-Banding-Trainings glaube ich, dass der Ansatz in diesem Kontext Sinn macht und eine sehr gut geeignete unterstützende Maßnahme ist, um genau dieses Ziel zu erreichen.

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